: Wir brauchen einen neuen Chor
An Alice Weidel denken heißt an Plötzensee denken. Sie ist eine Bedrohung für alles, was die Bundesrepublik lebenswert macht
Von Christina Friedrich
Sehe ich diesen weißen Rollkragenpullover, verbunden mit diesem eisigen Lächeln, das gleichzeitig eine gewisse Gefährlichkeit und Blödigkeithat, fällt mir Plötzensee ein. Die Hinrichtungsstätte Plötzensee, die Kälte der Urteile, die Todeswerkzeuge und das Leid der Hingerichteten. Der Schrecken dieses Ortes, der nun nicht mehr vergangen, sondern gegenwärtig erscheint. Dieser Ort steht hinter der Figur dieser Frau, die wie aus einem Bilderbuch einer nur scheinbar abgeschlossenen Zeit heraus eine Fahne schwenkt. Dazu der Chor, der ihren Namen ruft, der sich als Rausch auf ihrem Gesicht spiegelt, das eine Maske ist. Eine Maske der Bosheit. Ihre Verachtung, ihr Hass. Ihre Sprache, die Menschen verletzt, isoliert und beschädigt. Ihre Kleidung hat sie sich ausgeborgt. Sie scheint einen ganzen Vorrat von Insignien der Macht zu haben. Einen Schrank mit weißen Rollkragenpullovern, auf denen man jeden Fleck sieht. Die Perlenkette aus der Vitrine der bürgerlichen Ehefrau, die den mütterlichen Tisch deckt und die Parolen mit dem lang gezogenen R übt. Das Einstecktüchlein und die Anzugjacke von Ribbentrop, dem Außenminister des Deutschen Reiches, das sie zu beleben gedenkt. Mutter, Rittmeisterin, Wächterin und Gouvernante, die dem deutschen Volk nun wieder Zucht, Ordnung, Kontrolle und Verachtung beibringt.
Ich sehe sie kurz vor Weihnachten mit dem Rücken zum Magdeburger Dom. Ich höre die heiseren Rufe der Menge. Und dieser Chor, verbunden mit der Figur, die auf der Bühne steht mit einer neuen Verkleidung, einer Art Jägerhut, einer Jagdkleidung, macht mir Angst. Ich fürchte um die Schutzlosen, die sich in ihrem Jagdgebiet aufhalten. Mit einer Art Tropenhelm und Militärkutte, früher Bundeswehrparka, bemächtigt sie sich der Toten und Verwundeten, mit denen sie sehr wohl verbunden ist, da der Mörder ihre Worte als das Werkzeug seines Denkens zitiert hat. Ein Untergebener stellt sie vor als Doktor. Die sie umgebende, geschlossene Männerwelt macht ihrem vermeintlichen Charisma den Hof, ihrer Intelligenz. Sie haben ihre Klassensprecherin gewählt, die sie nun bei allen Anlässen vertritt. Sie sind gekommen, ihr künftiges Land zu trainieren. Zur Begrüßung skandiert die Menge „Abschieben!“ als vorweihnachtlichen Gruß. „Alice für Deutschland!“, schreit der Chor. Sie schreit mit dem Gestus eines kalten Messers, mit sich überschlagender Stimme und hat Schnupfen – oder simuliert sie Trauer mit einem Taschentuch? Das Telefongespräch mit einem Mann, der in ihr Spektrum gehört. Das irre, devote und irgendwie sexuelle Lachen, als hätte der Mensch mit dem ebenfalls gefrorenen Gesicht ihre wächserne Haut berührt. Die entgleiste und aus jedem Kontext, aus jedem Sinn, aus jeder Geschichte herausgestürzte Sprache, unterbrochen von diesem Lachen, das aus einer Region kommt, die ich nicht näher beschreiben möchte.
Ich denke, sobald ich diese Frau sehe, deren Namen ich nicht wiederholen möchte, nicht in diesem Text, an die Wächterinnen und Zuchtmeisterinnen deutscher Gefängnisse. Ich denke bei dieser weiblichen Figur einer Wiedergängerin an Mord und Gewalt. Der weiße Pullover täuscht mich nicht. Unter dieser Wolle wohnt ein besessener Mensch, der nachts, die Zähne zusammengebissen, alles säubert, was nicht in sein Weltbild gehört. Auf den Knien und mit der Wut der Verbissenen kämpft sie gegen die Menschen, die nicht in ihre Begrenzungen passen, die genährt sind aus den Parolen eines preußischen Reiches und dem Hass auf alles Fremde, das in ihrem kalten Gehirn die Leitzentrale bildet.
Möglicherweise hat sie als Kind die Bücher ihres Großvaters gelesen. Die Urteile eines Menschen ihrer unmittelbaren Familie, einem Anwalt der NS-Justiz, bilden offenbar ihr inneres Leitbild. Menschenverachtend und reaktionär. Ich sehe, wie sie auf den Knien mit einem Lappen aus ihrem weißen Wollpullover die so lebendige Gesellschaft, die immer wieder durch die Tür ihres Badezimmers strömt, wegputzen, reinigen, säubern und vernichten will. Sie trainiert vor dem beschlagenen Spiegel ihre Worte. Dann sitzt sie im Fernsehen und räkelt sich in ihrer Siegerpose und ihrer von Gewalt durchtränkten Sprache. Man möchte ihr in die Haare greifen, die Perlenkette zerreißen, ihr den Mund mit Wolle verschließen und sie in einem Bergsee versenken.
Aber die Ungeheuerin, die alles hasst, was sich eine Gesellschaft nach 1945 erringen musste, taucht wieder auf. Nun geht sie als entfesselte Riesin durch das Land und reißt Windräder nieder. Ständig verwechselt sie etwas, bringt alles durcheinander. Mörder, Diktatoren, Verbrechen, der Wind, alles eins. Ihr Weltbild ist ungeheuerlich, böse und verletzend. Sie ist eine Mörderin des Lebens, der Demokratie und der Solidarität. Wir haben die Menschen vor ihr zu beschützen, die sie täglich kränkt und entfernen möchte. Jeder Schlag in das Gesicht eines anderen, jede Verletzung der Würde eines anderen ist mit ihrem Aufruf zur Gewalt verknüpft.
Wir müssen uns diesem Ungeheuer entgegenstellen. Wir müssen den Chor vergrößern. Wir müssen den Chor der Menschlichkeit vergrößern. Ich denke an Sara, Benjamin, Esther, Miriam und Lea, die ihren geplanten Mord überlebten, der von ebendiesem Deutschland ausging. Sie würden sich zu Tode erschrecken und ihre Vermutung bestätigt finden, wenn sie sie sähen. Denn ihr Auftritt ist eine Inszenierung aus einem Geschichtsraum, der dem Faschismus huldigt. Und darum denke ich an Plötzensee, die Henker, die Todeswerkzeuge und die Namen der Hingerichteten.
All das bringt dieses Ungeheuer mit. Sie bedroht mich und dich, bedroht alle, die wir zu beschützen haben. Wir brauchen einen neuen Chor.
Christina Friedrich ist Schriftstellerin und Regisseurin. Letzten Herbst kam von ihr der Film „Zone“ in die Kinos.
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