: Der Sound des Tüllrocks
Kostüme retten, reparieren, mehrfach verwenden in Theaterproduktionen: Diese Arbeit macht das Berliner Kostümkollektiv. Die freie Szene nutzt das Angebot rege
Von Verena Harzer
Plötzlich steht da im Kellergeschoss des Berliner Kunstquartier Bethanien nicht mehr Muriel Nestler, Gründungsmitglied des Berliner Kostümkollektivs, sondern: eine Flunder. Nestlers Arme werden vom weit auskragenden Flunderbauch des Ganzkörperkostüms verdeckt, nur ihre Hände sind sichtbar. Ihr Beine verschwinden hinter dem schmaler werdenden Unterteil der Flunder. Wo die Schwanzflosse endet, ragen ihre braunen Stiefel hervor. Und dort, wo die Augen der Flunder wären, guckt Nestlers Gesicht durch ein kreisförmig abgenähtes Loch raus.
Das Flunderkostüm habe sie mit besonders viel Aufwand repariert, hatte Katja Birkle, Modedesignerin und Mitarbeiterin des Kostümkollektivs, zuvor erzählt. Das war dem Kostüm nicht anzusehen, als es unförmig auf dem Kleiderbügel hing. Also hat Nestler es sich kurzerhand übergezogen.
„Die müssen dann natürlich noch irgendwie Flossenhandschuhe dazu machen, oder so“, sagt Nestler, nachdem sie das Kostüm wieder ausgezogen und auf den Bügel gehängt hat. „Aber das müssen die sich dann selbst überlegen.“ „Die“, das sind die freien Theaterschaffenden, die sich dieses Flunderkostüm vielleicht mal für eine Theaterproduktion ausleihen werden. Vielleicht, weil in ihrem Stück eine Flunder eine Rolle spielt. Oder weil ihnen beim Stöbern im Fundus plötzlich die Idee kommt, einen Fisch in die Produktion einzubauen.
Wie auch immer, es wird dann ein glücklicher Zufall sein, dass die Kostümbildnerin Petra Korink dieses Probenkostüm für die Theaterproduktion „Der Fischer und seine Frau“ vergangenen Sommer anfertigen ließ. Und es, nachdem es abgespielt war, nicht einfach wegwarf oder im privaten Keller verstauben ließ. Sondern es dem Fundus des Kostümkollektivs im Kunstquartier Bethanien überlassen hat.
Das Flunderkostüm ist eines von rund 50.000 Kostümen, die dort hängen. Sie stammen aus alten Produktionen oder dem aufgelösten Fundus von Kunstschaffenden oder Theatergruppen. Sorgfältig repariert, katalogisiert und etikettiert warten sie an langen Kleiderstangen und in deckenhohen Regalen darauf, kreativ genutzt zu werden. Bei Muriel Nestler im Fundus des Kostümkollektivs ist fast alles zu finden: von der Rokoko-Krause über die Priesterrobe bis zum Astronautenanzug – alles da.
Der Fundus sei ihr Baby, sagt Nestler, die in den 90er Jahren Kostüm- und Bühnenbild studiert hat. Sie trägt jetzt wieder ihre schwarze Jeans und weinrote Strickjacke und sitzt auf einer Bank am Fenster im Souterrain des Kunstquartiers. Eine Tasse Tee in der Hand, fängt sie an zu erzählen. Wie sie damals die Idee hatte, Kostüme zu retten, die dann weiterzuverleihen an freie Theaterschaffende, die mit eher kleinen Budgets arbeiten müssen.
Sie fand Mistreiterinnen und Mistreiter, gründete mit ihnen den Verein Kostümkollektiv. Um herauszufinden, ob nicht doch alles nur eine Schnapsidee ist, haben sie 2011 eine Umfrage in der freien Szene gemacht, ob die mit so einem Fundus überhaupt was anfangen können. Ergebnis: konnten sie. Das half, um Geld aufzutreiben. Die Lotto-Stiftung Berlin unterstützte das Projekt, private Darlehen auch. Dazu: viel Unterstützung von Kolleginnen und Mitstreitern.
2012 schon konnte der Fundus in den frisch sanierten Kellerräumen des Bethanien eröffnet werden. Seit 2018 gibt es auch einen Zuschuss vom Land Berlin. Mittlerweile sind es 60.000 Euro im Jahr. Dazu kommen die Einnahmen aus der Ausleihe, die bei weitem nicht die Kosten decken können, wenn die Preise für die freie Szene bezahlbar bleiben sollen. Von dem Geld zahlt Nestler alles. Sie bekommt ein kleines Gehalt, ist immer da, wenn der Fundus auf hat, dreimal die Woche, jeweils vier Stunden.
Dazu gibt es Näherinnen, jemanden für Social Media, für die Finanzen, die Kommunikation und die Webseite. Dazu eine Putzhilfe. Manche machen das ehrenamtlich, andere arbeiten als Mini-Jobber. Viel Zeit geht drauf, um Kostüme zu reparieren und die Kostümdatenbank zu pflegen, in der die Theaterschaffenden nach allen Kostümen mit Bild, Größen- und Materialangaben penibel verschlagwortet suchen können.
Ein einmaliges Angebot in Berlin, das von der freien Szene rege genutzt wird. Im Schnitt betreut Nestler acht Theaterproduktionen pro Woche. Vom Ein-Personen-Stück bis zu ganzen Ensembles. Ausleihen, Anprobieren, Rückgabe.
Lydia Ziemke bringt einen Rock zurück. Die freie Theaterregisseurin hat ihn in ihrer deutsch-arabischen Produktion „Existenz“ eingesetzt. Der Rock war nicht ganz so ausladend und weiblich, wie sie ihn haben wollte für ihr Stück. Er hatte andere Vorzüge. „Hör mal“, sagt sie und greift in den Rock, der schon auf dem Rückgabetisch liegt. Der Tüll raschelt und knistert deutlich. Genau richtig für ihr Stück, in dem sie viel mit Geräuschen arbeitet. Der Sound des Tüllrocks hat sie zu einer ganz neuen Szene inspiriert, sagt Ziemke.
Sie kommt aber nicht nur in den Fundus, weil sie auf die Inspirationen eines Rockes hofft. Irgendwann, sagt sie, hat sie gemerkt, dass sie die Kostüme für ihre Produktionen nicht immer neu produzieren oder kaufen will. Der Fundus hilft ihr, nachhaltig zu arbeiten. Ziemke ist damit so etwas wie die Idealnutzerin des Kostümkollektivs.
Thomas Gläser ist ein weiteres Mitglied des Vereins. Er steht im Nähraum des „Hauses der Materialität“ am Alexanderplatz. Oder besser, in einem Container, der die Nähwerkstatt des Kostümkollektivs beherbergt. Hier werden die Kostüme aus dem Fundus repariert. Der Raum bietet aber auch Arbeitsplätze mit Nähmaschinen für freie Kostümbildner.
Gläser trägt einen selbstgewebten Schal um den Hals. Fischgrätmuster, sagt er. Nichts besonders. Er muss es wissen, Gläser hat einst sein Pädagogik-Studium abgebrochen, um Maßschneider zu werden. Seine Motivation: die moralisch fragwürdigen Produktionsbedingungen in der industriellen Bekleidungsproduktion. Er wollte sich seine Klamotten selbst nähen können. Hier im Container gibt er heute vor allem Profi-Tipps. Heute ist „Fetzen und Flicken“ angesagt, die offene Nähstube des Kostümkollektivs. Da ist eine Naht geplatzt, dort muss geweitet, woanders gekürzt werden. Gläser weiß, wie es geht. Er ist hier Teil seiner eigenen Vision. Der Vision einer nachhaltigen Infrastruktur. Das Kostümkollektiv ist für ihn einer von vielen Schritten dorthin. Auch, weil das Kollektiv über die Pflege des Fundus hinaus jedem hilft, der näherischen Rat braucht.
Zurück im Fundus. Muriel Nestler teilt diese Vision. Sie nippt an ihrem Tee. In einer idealen Welt, sagt sie, hätte sie mehr Mitarbeitende, mehr Werkstätten, mehr Kostüme. Ihr schwebt ein die gesamte künstlerische Produktion abdeckender, nachhaltiger Betrieb vor. Noch größer, ein künstlerisches Nachhaltigkeits-Netzwerk, dem alle Berliner Kulturinstitutionen angehören. Das wäre ihr Traum.
Es klingelt wieder, Nestler öffnet die Tür. Ein kurzes Gespräch, sie nickt. Dann verschwindet sie mit der Künstlerin in den Tiefen ihres Fundus. Was auch immer gewünscht wird, sie hat das passende Stück. Oder zumindest eine Inspiration.
Infos unter: https://kostuemkollektiv.de/start/
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