: Wummernder Tempel der Aufrichtigkeit
Ein Leuchtturm im subkulturellen Exzellenzcluster Sankt Pauli: Der französische Sozialanthropologe Maxime Le Calvé hat eine lesenswerte Ethnografie des Golden Pudel Clubs verfasst
Von Karin Jirsak
Maxime Le Calvé empfängt mich mit strahlendem Lächeln, ein Baby in einer Trage vor dem Bauch schaukelnd. Der promovierte Sozialanthropologe befindet sich zu Hause in Berlin, ich sitze im nebelgrauen Hamburg, gar nicht weit entfernt vom Golden Pudel Club, den Gegenstand, über den wir gleich sprechen werden. Während des Zoomgesprächs hüpft Le Calvé unermüdlich auf und ab, um jeweils einen seiner beiden Zwillinge in der Trage bei Laune zu halten. Stressen lässt er sich von diesem Multitasking nicht. Eher wirkt es so, als könne er sein Glück über all das gar nicht fassen. Man möchte sofort eine Club Mate trinken mit ihm am Pudeltresen – es war Le Calvés Getränk der Wahl, als er hier seine erste Feldforschung betrieb.
Die Verzauberung wirkt immer noch. Das wird sofort klar, wenn der Franzose berichtet über diesen Ort und diese Zeit im Pudel, die er in seiner 2012 eingereichten Masterarbeit dokumentiert hat. Zwölf Jahre später ist seine Studie über den Pudelcub in Hamburg-Sankt Pauli auch in Buchform erschienen. Die Gelegenheit habe sich einfach ergeben, erklärt der Autor, der an der HU in Berlin am Exzellenzcluster „Matter of Activities“ forscht. Und doch hat man das Gefühl, dass es vielleicht noch mehr zu sagen gäbe, wenn es sich denn greifen ließe.
Bemerkenswert auch, dass die „Golden Pudel-Ethnographie“ eine sehr gute Lektüre-Ergänzung bildet zum nahezu zeitgleich erschienenen „Pudels Kern“, Teil zwei der Autobiografie des großen (auch) literarischen Hansestadt-Punks Rocko Schamoni. Zufall? Synchronizität? – Egal.
Wir springen zurück in jene Zeit, in der Le Calvé sich dem identitätsstiftenden Moment des Pudels nicht entziehen konnte. „Ich war 2010 unterwegs auf St. Pauli als junger Mann, der cool sein wollte, so cool wie die Leute vom Pudel“, erinnert er sich. „Langsam verstand ich aber, dass die nicht so sein wollten wie andere und dass ich also lieber ich selbst werden sollte.“ Einen wichtigen Anteil seiner Selbstwerdung hatte die Atmosphäre des Pudels, die Le Calvé zum Dreh- und Angelpunkt seiner ethnographischen Untersuchung machte. „Die ästhetischen Arbeiter*innen des Pudels werden selbst von der Atmosphäre getragen und sind eins mit ihr“, schreibt er. Auch Le Calvé tauchte ein in diese Atmosphäre und schöpfte das Seine ab.
Leicht gemacht haben die coolen Leute vom Pudel ihm das anfangs nicht. Der neugierige Student wurde skeptisch beäugt, etwa von Mitbetreiberin Charlotte Knothe: „Warum fragst du die Leute aus?“ Pudelaner:Innen sind keine Peoplepleaser. Le Calvé weiß das zu schätzen, denn es ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Atmosphäre im Club über all die Jahre als fruchtbares Feld von Subkultur weiter wuchern konnte. Nicht ungestört, aber strukturell und inhaltlich doch nie beeinträchtigt durch das Establishment und den Kommerzdruck, beides wächst rings um den Club weiter. „Das pudel-typische Werk muss nicht perfekt sein, um erfolgreich zu sein, es sollte sogar unvollkommen sein, um gelungen zu sein“, analysiert Le Calvé in seinem Buch.
Ein Zusammenspiel zwischen Atmosphäre, Identität(en) und Werk wird modellartig dargestellt, der entsprechende Jargon gehört dazu. Le Calvés Arbeit ist aber nicht nur eine wissenschaftliche Untersuchung, sie ist auch ein farbenfroher Abriss über die Geschichte des Ladens, der für viele die Welt bedeutet. Lebendige Schilderungen pudel-typischer Szenen sowie vom Autor retrospektiv angefertigte, colorierte Feldzeichnungen reichern die Analyse mit – ja – Atmosphäre an und eröffnen verschiedene Zugänge zum Phänomen Pudel. Grafiken von Hausillustrator Alex Solman fügen eine zusätzliche künstlerische Dimension hinzu. „Zwölf Jahre gehen so schnell vorbei“, seufzt Maxime, der inzwischen den Zwilling im Tragegurt gewechselt hat. Manches hat sich seither verändert, vieles aber auch nicht. Geblieben etwa ist die von den Pionieren Rocko Schamoni („Dorfpunks“) und Schorsch Kamerun (Die Goldenen Zitronen) injizierte Punk-Haltung, die in allen Pudelhandlungen und -kreationen mitschwingt – als geistiges Fundament, wenn auch die musikalische Entwicklung zu großen Teilen ins Elektronische weiterfloss.
Geblieben sind auch Charlotte Knothe, Ralf Köster und Viktor Marek, die nach dem Verlust von Norbert Karl, dem 2004 verstorbernen dritten Pudelbetreiber, das Ruder übernahmen. Als (be)treibende Kräfte wuppten sie den Pudel durch sämtliche Krisen der vergangenen 20 Jahre. Ja, der Pudel brannte 2016 ab, wurde danach mühsam wiederaufgebaut und schritt erhobenen Hauptes mit neuem Dach weiter. Er schleppte sich durch Coronapandemie und Inflation, ächzend wie alle anderen. Die Pudel-Resilienz ist Legende, aber solche Überlebenskämpfe kosten auch Kraft. Ja, an manchen Tagen ist der Pudel müde, doch er ist golden geblieben und spinnt sein ewig funkelndes Netzwerk weiter.
Aktuell konnte Ralf Köster etwa das feministische Hamburger HipHop-Kollektiv Bangerfabrique davon überzeugen, als Resident DJs einzusteigen, „weil das der heiße Scheiß ist.“ Einstand wird am 13. Februar gefeiert. Geblieben ist auch Ulli Koch, als graue Eminenz und Mann für die Sauberkeit am Morgen danach. Seinen Abschied von der Pudel-Weltbühne hat der Neffe von Norbert Karl allerdings schon im November 2024 gefeiert, mit einer letzten Lesung aus seiner Autobiografie „Ulli, illegal“ (2020).
Maxime Le Calvé ist dagegen wieder fortgegangen. Darüber wunderte sich Charlotte Knothe lustigerweise am meisten. Trotz anfänglicher Skepsis hat auch sie erkannt, wie bestechend schlüssig der junge Wissenschaftler und seine Arbeit sich in das Netzwerk Pudel eingewoben haben. Ein weiteres Puzzleteilchen, das noch fehlte und also andocken musste, sich dann wieder löste und, mit goldener Pudelkraft geladen, weiter düste, um neue, ganz eigene Bahnen zu zeichnen.
In Berlin schloss Le Calvé seine Doktorarbeit über den Künstler Jonathan Meese ab. Den Schlüssel zu diesem Thema hat er – natürlich – vorher im Pudel gefunden. Genau da möchte er auch bald sein Buch vorstellen, dazu seine Zeichnungen als großformatige Drucke an die Wände hängen, vielleicht ein paar Songs spielen, gerne zusammen mit Viktor Marek. Im Frühling könnte er die Zeit dazu finden. Die Arbeit als Vater von dreien und Post-Graduate-Forscher an der Humboldt-Universität halten ihn auf Trab.
Zuletzt hat er den Pudel im Sommer 2023 besucht. Patricia Wedler alias DJ Patex, eine langjährige Pudelfreundin, war damals nach langer Krankheit verstorben. Zu Wedlers Ehren kam die alte Gang auf der Terrasse zusammen, Wedlers Band School of Zuversicht spielte an diesem Tag zum letzten Mal, ohne ihr Zentralgestirn Patex. Die feierliche Melancholie jenes Tages fängt Maxime im Nachwort seiner Arbeit ein. Eine Schwermut, die dem Anlass geschuldet ist, aber auch fühlbar darüber hinausweist.
Der Pudelclub hat über die Jahre viele Sterne aus seiner Mitte aufsteigen sehen, einige sind bereits verglüht. Transformation ist nicht nur Werden, sondern auch Vergehen. Die Welt um den Pudel herum sieht heute düsterer aus, die Zukunft: ungewiss, wie immer. Oder auch schlimmer. Und genau darum wird der Pudel als wummernder Tempel der Aufrichtigkeit mehr gebraucht denn je. „Ich habe Vertrauen in den Pudel, der Pudel ist stark“, sagt Le Calvé. Er muss es wissen, er hat die Zauberkräfte des Pudelclubs schließlich wissenschaftlich untersucht.
Mangelnde Tiefe kann man seinen ethnologischen Bohrungen kaum vorwerfen, dennoch muss Le Calvé am Ende gestehen, dass auch er das letzte Geheimnis des Pudels nicht entschlüsselt hat. Bei allen Erkenntnissen bleibt des Pudels Kern auch für ihn im tiefsten Grunde „ein Mysterium, so wie das Leben“. Schön zu sehen, wie er sich darüber freut.
Maxime Le Calvé: „Golden Pudel-Ethnographie. Atmosphäre, Netzwerke und Reputation in einem Hamburger Nachtclub“. Transcript Verlag, Bielefeld, 2024, 183 S., 29 Euro
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