: Die eigene Stärke fühlen
Kampfsportlerin Julia Schnetzer steigt in den Ring, um sich zu hauen. Der Sport diszipliniert und macht sie auch stark für die Krisen der Welt
Aus Bremen Tanja Tricarico
Schmerzen gehören für Julia Schnetzer dazu. Blaue Flecken, ein Bänderriss, ein blaues Auge. „Normal“ in Schnetzers Alltag. Sie ist Kampfsportlerin, vor allem Kickboxerin. Auch in der Disziplin MMA – Mixed Martial Arts – ist sie mittlerweile unterwegs. Dort sind neben Schlägen und Tritten auch Würfe, Würgegriffe und Hebel – erlaubt. Es geht ums Kämpfen, um intimste Situationen. Intim deswegen, weil die Gegnerin oder der Gegner sekundenlang auf dem Gesicht der Kontrahentin sitzen kann. Weil es in manchen Disziplinen dazugehört, mit beiden Armen den Hals zu umklammern, sodass die Blutzufuhr zum Gehirn abgeschnürt wird. Vollkontakt, um die Gegnerin zu bezwingen, bis sie aufgibt.
Schnetzer, ihr dunkelblondes Haar hat sie zum Zopf gebunden, die Seiten rasiert, Tätowierungen zieren ihre Arme und Beine. Ihre Augen leuchten, wenn sie von ihrem Sport erzählt. Was ist ihre Motivation? Das ist doch Gewalt. „Klar ist das Gewalt in diesem Sport, wir hauen uns im Ring“, sagt Schnetzer und lacht. Und manchmal sei es wirklich absurd, wenn sie darüber nachdenkt, dass sie sich genau auf solch eine Situation vorbereitet.
Sie weiß, dass das für Außenstehende irritierend wirken kann. Das hört sie auch aus ihrer Familie. Ihre Mutter macht sich Sorgen, wenn sie kämpft. Wegen der Verletzungen, sagt sie. Und ihr Onkel findet ihre Sportwahl sowieso nicht gut. Zu krass für eine Frau. Andererseits bekommt sie von ihren Neffen und Nichten Pluspunkte. „Die finden das cool“, sagt sie. Warum? Geht es darum, Energie loszuwerden oder um Wettkampf: gegeneinander antreten und kämpfen? Eher doch darum, sich selbst zu spüren und die eigene Stärke auszutesten und wahrzunehmen.
Schnetzer hat Tresendienst an diesem Dienstagnachmittag. Die Halle, in der sie trainiert – das Gym, wie die Kampfsportler hier sagen –, liegt in einem Industriegebiet mit wuchtig-nüchternen Containerbauten in Bremen. Vor 20 Jahren war hier der Konzern Siemens angesiedelt, sagt einer der wenigen Passanten, die in dieser Gegend spazieren gehen. Heute sind Start-ups vor Ort, verschiedene Firmen aus der Logistik. Der Luftfahrtkonzern Airbus hat hier einen Standort. Und hier liegt die Trainingshalle von Grapple & Strike.
Drinnen kümmert sich Schnetzer um die Trainierenden. Zum Beispiel um die, die ein Probetraining vereinbaren wollen. Und natürlich um die, für die das Gym zum Alltag gehört. Die Stimmung ist herzlich, man kennt sich. Schnetzer ist heute auch Co-Trainerin einer Kickbox-Frauengruppe. Das Training ist als Einstieg in den Sport gedacht. Denn eigentlich sollen Männer und Frauen gemeinsam trainieren. „Wer nicht mit Frauen trainieren will, hat hier keinen Platz“, sagt Schnetzer. Eine Ansage, die in der Kampfsportszene nicht selbstverständlich ist.
3-2-1. Dann läuft der Countdown drei Minuten. Der Ton, der das Ende der Runde einleitet, ist monoton, statisch. Genau das Gegenteil von dem, was auf der Matte passiert. In Bewegung bleiben, keine Diskussion, einfach machen. Fünf Frauen sind heute zum Training gekommen. Zu zweit üben sie, Schläge abzuwehren und auszuteilen, mit den Fäusten, mit den Beinen. „Die Schritte geben uns die Power“, sagt Schnetzer.
Die Gesichter rot angelaufen. Der Schweiß läuft. Trinkpause. Es ist anstrengend, es wird trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen viel gelacht. Gemeinsam kämpfen, gemeinsam leiden, zusammen Stärke fühlen. Weiter geht’s mit der immer gleichen Übung: Links mit der geballten Faust die Gegnerin angreifen, dann mit der rechten, wieder mit der Linken. Dann mit einem Kick mit dem Bein auf den Oberschenkel der Gegnerin zielen. Wer nicht angreift, ist in Abwehr. Dann wird im Team gewechselt.
Knieschoner, Boxhandschuhe, Mundschutz – diese Montur soll den Körper schützen. Aber diesen mit der Ausrüstung in Einklang zu bringen, ist für Anfängerinnen bereits eine Herausforderung. Kampfsport ist Teamwork. Im Training ist es kein gegeneinander, sondern ein miteinander. „Ich lerne von meinem Partner“, sagt Schnetzer.
Die Koordination von Kopf, Armen und Beinen erfordert Konzentration, Disziplin und blendet alles aus, stoppt das eigene Gedankenkarussell. „Drilling“ nennt Schnetzer die Einheit. Also immer wieder denselben Ablauf zu üben, bis der Körper den „automatisch abspult“. Sonst kann es weh tun. Alle, die zum Training kommen, kennen das. Eine Teilnehmerin hatte vor Kurzem einen Rippenbruch und konnte viele Wochen nicht trainieren. Kampfsport ist kein Hobby, das kurzfristig funktioniert.
Kämpfen, schickt sich das überhaupt für Frauen? Das ist vielleicht eine seltsame Frage im Jahr 2025. Aber an der Sicht, Frauen als weich, zurückhaltend, als lieb zu betrachten, hat sich nicht viel geändert. Aggressive Frauen haben sowieso einen schlechten Ruf. Aber ohne Aggressivität geht es nicht im Kampf. Schnetzer ist klar in ihren Aussagen, klar in ihrer Haltung. Sie strahlt keine Härte aus, aber Bestimmtheit. Bestimmt ist sie auch darin, im Wettkampf siegen zu wollen. „Ich will besser sein, an diesem Tag“, sagt sie. Das ist in fast jedem Hochleistungssport so, auch in dem Sport, bei dem man sich nach Regeln bewusst schlägt.
An diesem Nachmittag ist das Level der Kämpfenden sehr unterschiedlich. Die eine wird im April ihren ersten Kampf bestreiten, hofft Schnetzer. Eine Teilnehmerin ist noch nicht so lange dabei. Und deutlich älter als ihre Trainingspartnerinnen. Ihre Bewegungen sind langsamer, zögerlicher. Grenzt Alter beim Kampfsport aus? Schnetzer ist heute 40. Richtig eingestiegen ist sie erst vor knapp 6 Jahren.
Alter ist ein Thema im Wettbewerb. Sie wurde für ein „match“ im Kickboxen auch schon mal abgelehnt, weil ihre Gegnerin rund 15 Jahre jünger gewesen wäre. Kränkt sie das? Nein, sagt Schnetzer. „Aber ich hätte das gerne selbst entschieden.“ Ohnehin gibt es wenig Frauenkämpfe, da schlicht die Kämpferinnen fehlen. Dreimal hat Schnetzer verloren, einmal gewonnen, einmal ging der Kampf unentschieden aus. Sie will wieder kämpfen. Und zwar bald. Schnetzer tritt in der Gewichtsklasse bis 60 Kilo an. In dieser Liga gibt es zwar mehr Gegnerinnen, aber immer noch zu wenige.
Auf der Matte lobt Schnetzer, motiviert nach jedem Treffer und jeder gelungenen Abwehr. „Viele Frauen brechen nach den ersten Trainingsstunden ab, weil es dauert, bis die Techniken klappen.“ Das liegt nicht nur an der Anstrengung und der Disziplin, sondern auch vor allem an der Atmosphäre, die in vielen Gyms herrscht. Das ist in Bremen anders. Videos und Fotos aus dem Gym, in denen oberkörperfrei rumgeposed wird, soll es aus der Halle, in der Schnetzer trainiert, nicht geben. Trainingserfolge ja, aber keine Angeberei.
Überhaupt: Das Klischee von der modrig-verruchten Untergrundbutze, in der der Schweiß an der Decke klebt und die nur die Härtesten reinlässt, wird im Industriegebiet in Bremen nicht bedient. Stattdessen Tageslicht, ein heller Raum, alles wirkt sehr aufgeräumt und sortiert. Rockymäßig ist in diesem Gym nahezu nichts. Vielleicht noch Schnetzers knallrotsanftschimmernde kurze Hose, die sie im Training trägt.
Aber die Klischeebude kennt sie auch aus eigener Anschauung. 2009 hat sie mit Thaiboxen angefangen. Ein Freund hat sie damals mitgenommen. Frauen waren damals wie heute die Minderheit im Kampfsport. Ihre Trainingspartner: Türsteher, Leute, die zwischendurch mal verschwanden, weil sie im Knast waren. Respekt bekam Schnetzer vor allem, weil sie mit ihm – einem Freund – da war. Dass einem mit Respekt begegnet wird, sei auch eine Motivation, warum sie überhaupt angefangen hat. Früher, sagt sie, war sie nicht so selbstbewusst.
Im anderen Leben ist Schnetzer Meeresbiologin. Sie war auf Forschungsschiffen unterwegs, hat Korallen, Haie beim Tauchen gesehen. Ihre Tätowierungen erzählen die Geschichten ihres Lebens. Zum Beispiel die beiden fliegenden Fische auf ihrem Oberarm, die einen Anker umrunden. Zuletzt war Schnetzer auf Tour im Atlantik. Sie hat beobachtet, dokumentiert, wissenschaftliche Erhebungen gemacht. Passen Forschung und Kampfsport, beide Lebenswelten, zusammen? „Ich kämpfe für den Meeresschutz, ich kämpfe auf der Matte“, sagt sie.
Und: Körperliche Fitness hilft auch auf dem Schiff. „Ich bin bestimmt stärker als andere“, sagt Schnetzer. Und das meint sie ganz praktisch. Wenn sie ein schweres Möbelstück bewegen will, braucht sie keinen Mann um Hilfe zu bitten. Es geht um die Extrameile, darum, die eigene Grenze zu kennen und diese auch ab und an zu überwinden. Ums Durchhalten und ums Nichtaufgeben. „Ich habe die Folgen des Klimawandels gesehen“, sagt Schnetzer. „Mein Sport hilft mir auch, damit besser umzugehen.“
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