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Buch über Tour de FranceEs geht auch ohne Fantum

15 Mal hat Reporter Stephan Klemm das Radsportereignis begleitet. Mit „Tour de France“ veröffentlicht er nun eine sehr gründliche Analyse.

Strampeln auf Frankreichs Straßen: auch der Belgier Remco Evenepoel macht mit Foto: Imago/Belga

Stephan Klemm ist ein vielseitiger Sportjournalist, er schreibt über Handball und Skispringen, Sportpolitik und Doping und hat zuletzt dem epischen Match im Halbfinale der Fußball-WM 1982 zwischen Deutschland und Frankreich ein Buch gewidmet. Doch die große Leidenschaft des studierten Historikers gehört ganz eindeutig dem Radsport.

15 Mal hat Klemm die Tour als Reporter begleitet, von den Tagen der großen deutschen Euphorie um Jan Ullrich und das Team Telekom bis ins Jahr 2024, in dem ein übermenschlich radelnder Tadej Pogačar so viel Bewunderung wie Skepsis hervorrief.

Über all die Jahre gärte in ihm der Wunsch, das Phänomen Tour de France, das er so intim kennengelernt hatte, wie kaum ein anderer, einem deutschen Publikum so gründlich nahezubringen, wie das nur irgend geht. Nun hat Klemm ein mehr als 600 Seiten starkes Werk über das drittgrößte Sportereignis der Welt vorgelegt, umfassender und gründlicher als alles, was es zur Tour in deutscher Sprache bislang zu lesen gab.

Langatmig oder gar langweilig ist die Lektüre jedoch trotz des beachtlichen Volumens nicht eine Seite lang. Klemm schafft es, dem Leser jene Tour zu zeigen, die er kennt und die ihn über die Jahre um so mehr fasziniert hat, je mehr Aspekte des Spektakels er zu verstehen gelernt hat. Dabei gleitet Klemm niemals in das Fantum ab, das Sportjournalisten häufig vorgeworfen wird.

Stelldichein großer Figuren

Heldenverehrung interessiert ihn nicht, auch nicht in den Kapiteln, die den bedeutsamsten Persönlichkeiten gewidmet sind, welche die Tour in ihrer 121 Jahre langen Geschichte hervorgebracht hat. Klemm bleibt Chronist und Analytiker, er beschreibt, warum die großen Figuren der Tour von Jacques Anquetil über Eddy Merckx bis hin zu Lance Armstrong eine so große Anziehungskraft entfaltet haben und was sie ausgemacht hat, ohne selbst die Distanz zu verlieren.

Am stärksten ist das Buch jedoch, wenn es vom Geschehen auf der Landstraße weggeht, auch wenn sich gerade die Nacherzählung der Rundfahrten in den abenteuerlichen frühen Jahren des Rennens überaus unterhaltsam lesen. Noch spannender ist jedoch der Blick hinter die Kulissen, bei dem man von Klemm vieles erfährt, was selbst dem aufmerksamen Radsportbeobachter so nicht bekannt war.

So weiß man im Allgemeinen, dass die Tour de France als auflagenfördernder Werbegag einer Zeitung entstanden ist. Die Details des damaligen Verlegerkrieges von L’Auto und Le Vélo gab es so jedoch auf Deutsch so noch nicht zu lesen. Klemm rekonstruiert nicht nur bis zum Dialog zwischen dem Journalisten Géo Lefèvre und seinem Chef Henri Desgrange den Lunch, bei dem im Jahr 1902 die Idee zur Tour geboren wurde. Er breitet auch den soziokulturellen Kontext der Entstehung von der Fahrrad- und Technikeuphorie jener Zeit bis hin zum politischen Klima aus.

Ebenso spannend ist die Erfolgsgeschichte der heutigen Ausrichtefirma Amaury Sports, kurz A.S.O

Ebenso spannend ist die Erfolgsgeschichte der heutigen Ausrichtefirma Amaury Sports (A.S.O), die über 70 Jahre ein Mischimperium als Medienunternehmen und Sportveranstalter aufgebaut hat – einer Maschinerie, von der die Tour de France nur ein kleiner Teil ist.

Dabei wird auch nicht ausgespart, wie die A.S.O sich immer wieder in Machtkämpfe mit den Radsportverbänden verstricken musste, um ihre Interessen zu wahren, die auch vor Sabotageakten nicht haltmachten. Nun hat sie es, wie viele Sportorganisationen, mit finanzstarken Investoren aus dem Nahen Osten zu tun, die große Pläne für die Gesamtvermarktung des Radsports hegen. Dabei tritt die A.S.O als eiserne Behüterin von Tradition und europäischer Radsportkultur auf.

Stephan Klemm bereitet all das journalistisch und mit erzählerischem Geschick auf. Dabei weitet sich, Story für Story, der Blick auf die Tour als – man verzeihe das Klischee – viel mehr als ein Radrennen. Sie wird als wirtschaftliches, kulturelles, politisches und soziales Phänomen greifbar und damit um einiges faszinierender, als alleine der allsommerliche Heldenkampf an den Hängen der Alpen und Pyrenäen.

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