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Wie neurodivers darfs denn sein?

Depression, ADHS, Zwangsstörung – auf den sozialen Medien boomen die Plattformen für Selbstdiagnosen. Das kann Betroffenen Erleichterung bringen, aber auch die Erfahrung eigener Gefühle verstellen

Was stimmt nicht mit mir? Antworten geben die sozialen Medien Foto: Alpgiray Kelem/getty images

Von Larissa Smurago

Eine junge Frau läuft sichtlich gestresst durch ein Zimmer und setzt immer wieder zu neuen Tätigkeiten an. Sie faltet Wäsche, nimmt ein Buch in die Hand, föhnt ihre Haare, arbeitet am Laptop. Sie wirkt dabei hektisch und geht jeweils zur nächsten Aufgabe über, ohne die angefangene zu beenden.

„Fällt es dir schwer, dich auf deine Aufgaben zu konzentrieren? Ein klares Zeichen für ADHS“, erklärt sie mit festem Blick in die Kamera. Erst durch diese Diagnose sei ihr das eigene Verhalten klargeworden. Ohne dies weiter auszuführen, beginnt sie eine Reihe von Symptomen aufzuzählen, die auf eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung schließen ließen. Sie ermutigt ihre Zu­schaue­r:in­nen auf Tiktok nicht, sich bei ähnlichen Problemen Hilfe zu suchen.

Die Auseinandersetzung mit psychischen Erkrankungen ist auf Social Media zu einem beliebten Thema geworden. Das trägt zwar dazu bei, diese Erkrankungen zu entstigmatisieren, zugleich aber trägt diese Selbstdiagnosekultur zu einer Verzerrung des Verständnisses von psychischer Gesundheit und einer Überpathologisierung alltäglicher Gefühle bei. Leichtfertig gestellte Selbstdiagnosen können die Erfahrung der eigenen Gefühlswelt erschweren.

Die Zahl von Videos zur Selbst- und Fremddiagnose auf den verschiedenen Kanälen von Social Media ist kaum überschaubar: „ADHS bei Frauen in 25 Sekunden erkennen. Ist dein Kind autistisch? So kannst du mit Neurodivergenz umgehen.“ Manche liefern Listen von Symptomen zur Diagnose psychischer Störungen, andere erläutern, weshalb man sich bei einer Erkrankung auf eine bestimmte Weise verhält. Menschen berichten von schweren Traumatisierungen und deuten an, dass sich eine bestimmte Schlafposition nur als Trauma-Reaktion verstehen lasse. In solchen Videos wird klinisches Vokabular inflationär verwendet: Unstimmigkeiten werden zu traumatischen Ereignissen stilisiert. Andere Menschen, die sich nicht den eigenen Erwartungen entsprechend verhalten, werden kurzerhand zu Narzissten erklärt. Zum Teil werden den Scrollenden nach dem Schema „wo ein Symptom ist, da muss auch eine Störung sein“ handfeste Diagnosen wie ADHS, Autismus, bipolare Störungen und Depressionen gestellt.

Neurodivers ist das neue Normal. Das Konzept der neuro(-logischen) Diversität geht auf eine in den 1990ern entstandene soziale Bewegung zurück, die sich zunächst vor allem gegen die Diskriminierung von Au­tis­t:in­nen wandte. Als Bemühung um Ent­stigmatisierung psychischer Störungen hat das Konzept in den vergangenen zwanzig Jahren wissenschaftlich, kulturell und politisch viel Beachtung gefunden. Neurodiversität hebt die natürliche Vielfalt neurologischer Funktionen und Verhaltensweisen hervor. Störungen wie ADHS oder Autismus werden nicht als Defizite, sondern als Teil menschlicher Verschiedenheit betrachtet. Es wird davon ausgegangen, dass „neurotypische“ Entwicklungen eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Entsprechend lautet die Botschaft auf Social Media oft: Wer noch keine Diagnose hat, hat sich bloß noch nicht richtig mit den eigenen Symptomen auseinandergesetzt.

Die Verwendung ausschließlich symptom-orientierter und klinisch nicht bestätigter Diagnosebegriffe lässt allerdings schnell vergessen, dass beispielsweise alle „klassischen“ ADHS-Symptome in einer gewissen Ausprägung auch ohne entsprechende Störung vorkommen. Ob es sich beim Vorliegen von Symptomen tatsächlich um eine zugrunde liegende Störung oder Krankheit handelt, hängt von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Kriterien ab, das kaum anhand eines 20-sekündigen Videos zu erfassen ist. Nicht zuletzt ist dabei entscheidend, wie gut man mit einer gewissen Symptomatik im Alltag zurechtkommt. Nimmt man das Konzept der Neurodiversität ernst, stellt sich jedoch die Frage: Wenn die Abweichung zur Norm geworden ist, gilt es nicht, die geltenden Vorstellungen von Norm zu überdenken?

Oft sind es die Überforderung mit den eigenen Emotionen und das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, die Menschen dazu bewegen, auf Social Media nach Antworten zu suchen. Da liegt die Hemmschwelle tiefer als bei einem Gang zum Arzt. Die Recherche im Netz stellt, vor allem in Regionen mit unzureichender Gesundheitsversorgung, einen ersten Zugang zu wichtigen Informationen dar. Dass Störungen beschrieben und entstigmatisiert werden, erleichtert vielen den Schritt, sich die benötigte Hilfe zu holen.

Sucht man bei Social Media nach Mental Health Content, finden sich unter den Abertausenden Videos und Posts jedoch auch zahlreiche, die Symptome zu Störungen erklären. Viele der Portale haben inzwischen Hinweise geschaltet, die auf eine solche Suche hin erscheinen. Bei Instagram gibt es einen Link zu „Ressourcen“ für schwierige Zeiten, also „ganz einfache Dinge, die andere hilfreich fanden“. Darunter finden sich Tipps wie „Trinke ein großes Glas Wasser“ oder „Öffne ein Fenster oder eine Tür, um etwas frische Luft einzuatmen“. Tiktok weist darauf hin, dass das Aufrufen solcher Inhalte keine medizinische Abklärung ersetze. Gegen die Eindeutigkeit und Erleichterung, die mit Scheindiagnosen einhergehen kann, kommen solche Hinweise aber schwer an.

Dabei haben psychische Erkrankungen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich zugenommen, insbesondere infolge von Covid-19. Die Suizidrate ist auf dem höchsten Stand seit 1995, viele junge Menschen fühlen sich psychisch belastet. Während häufig ein Zusammenhang mit dem Aufkommen von Social Media hergestellt wird, lassen Forschungsergebnisse keineswegs eindeutige Rückschlüsse auf eine derartige Kausalität zu. Zudem wäre es wohl angesichts multipler gesellschaftlicher Krisen zu kurz gegriffen, ausschließlich Social Media für den Anstieg psychischer Erkrankungen verantwortlich zu machen.

Social Media mag aber auf andere Art zu diesen beitragen: Wird psychisches Leid einerseits entstigmatisiert und ein offenes Gespräch über Depression und andere Erkrankungen ermöglicht, führt die leichtfertige Identifizierung mit Symptomen andererseits bei vielen überhaupt erst zur vermeintlichen Diagnose. Durch die Übernahme klinischer Klassifikationen entsteht ein regelrechter Selbstdiagnosehype, bei dem unangenehme Gefühle zu Krankheiten werden und Klassifikationen immer nur das bestätigen, was vorab schon bekannt war.

Bei körperlichen Gebrechen scheint allgemein bekannt, dass eine Symptomrecherche schnell zu unverhältnismäßig besorgniserregenden Ergebnissen führen kann. Aus temporärer Müdigkeit wird unversehens ein Warnzeichen für eine schwerwiegende Autoimmunkrankheit. Weil es ein Bewusstsein für die Fehlbarkeit solcher Selbstdiagnostik gibt, besinnen sich viele Menschen darauf, sie nicht überzubewerten. Aus psychischen Symptomen werden aber nicht selten unkritisch Störungen abgeleitet. Besonders junge Menschen ziehen Selbstdiagnosen oft als Erklärungen für Verhaltensweisen oder Gefühle heran. Der Ohnmacht, die angesichts belastender und doch normaler Gefühle wie Angst oder Trauer empfunden wird, wird mit Klassifikationen aus psychologischen Handbüchern begegnet.

Die Popularisierung psychologischen Vokabulars ermutigt aber auch Anbieter von Therapien und Medikamenten, solche schmerzhaften Gefühle zu psychischen Erkrankungen zu stilisieren. Therapie-Plattformen wie BetterHelp, das von Influencern wie Hailey Bieber beworben wird, oder Ahead, das selbsternannte „Duolingo for therapy“, suggerieren ihren häufig jungen Zielgruppen nicht nur bestehende psychische Probleme, sondern erwecken zugleich auch die Illusion einfacher Lösungen. Schon deren animierte Fragebögen lassen die Grenze von „Wellbeing“-Lifestyle und psychischen Störungen verschwimmen.

Bei der Pathologisierung des Alltagslebens auf Social Media scheint es jedoch nicht nur um die Diagnose von Krankheiten zu gehen, sondern auch um Anerkennung und Zugehörigkeit. So sind (Schein-)Diagnosen längst zu kulturellen Kategorien geworden. Wie Sternzeichen oder Persönlichkeitstypen werden sie zu Erklärung eigenen oder fremden (Miss-)Verhaltens genutzt. Dahinter liegt mitunter auch der Wunsch, auf das eigene Leid hinzuweisen, ohne sich mit dessen Ursachen oder der Komplexität psychischer oder gesellschaftlicher Verhältnisse zu befassen. Zwar ist nachgewiesen, dass die Verbalisierung – das Aussprechen und Beschreiben – von Gefühlen ein wirksames Werkzeug zu deren Bewältigung ist, doch werden emotional herausfordernde Situationen vor allem von vor allem jungen Menschen auf Social Media in klinische Kategorien gepresst, ohne dass tatsächlich eine Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Gefühlen stattfindet.

Das Schema lautet: Wo ein Symptom ist, muss auch eine Störung sein

Eine solche Auseinandersetzung bestünde darin, sich der Emotion, wie unerwünscht und unangenehm sie auch ist, hinzugeben – sie zu beachten und zuzulassen. Wird Gefühlen nicht eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet, was gerade in Zeiten permanenter Reizüberflutung unmöglich scheint, kann das Erlebte nicht verarbeitet und auch nicht überwunden werden. Die unreflektierte Übernahme von Diagnosen hinterlässt zwar den Eindruck einer produktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Gefühlswelt, einer Erfahrung der eigenen Emotionen, verhindert diese aber letztlich. Sie führt zu Realitätsflucht, da das Erlebte eben nicht verarbeitet, sondern bloß kategorisiert wird. Für Erkrankte kommt eine Diagnose häufig einer Erlösung gleich – wer sich aber ohne ärztliche Abklärung selbst eine Störung bescheinigt, läuft Gefahr, sich in der Identifikation mit der Scheindiagnose zu verlieren.

Auch wenn Begriffe wie „depri“ oder „OCD“ (Obsessive-compulsive Disorder, zu Deutsch: Zwangsstörung) längst in den Sprachgebrauch junger Menschen übergegangen sind: Nicht jeder Hang zur Ordnung ist eine Zwangsstörung, nicht jedes Gefühl der Trauer eine vollwertige Depression. Schmerzhafte Gefühle wie Schuld oder Trauer können nur überwunden werden, wenn sie als solche empfunden und erfahren werden. Die unangenehme Erfahrung wird ergänzt um die bereichernde, gelernt zu haben, eine emotionale Krise zu überwinden.

Leichtfertige Selbstdiagnosen, mal scherzhaft, mal ernsthaft verwendet, rücken an die Stelle der Aufmerksamkeit, die es bräuchte, sich den eigenen Emotionen und den gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer diese entstehen, zu widmen. Statt die eigene Handlungsfähigkeit wahrzunehmen, wird das Gefühl der Ohnmacht und Unsicherheit angesichts allgemeiner politischer Destabilisierung, unaufhörlicher Informationsflut und kultureller Übersättigung durch eine klinische Klassifizierung überdeckt.

Wer ohne ärztliche Abklärung Diagnosen übernimmt, tut also nicht nur denen Unrecht, die tatsächlich an psychischen Erkrankungen leiden, sondern versperrt sich selbst den Weg, Erfahrungen zu machen: An die Stelle rea­ler, wenn auch schmerzhafter Erfahrbarkeit, tritt die Diagnose als Art und Weise, sich die innere und äußere Welt zu erschließen.

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