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Roman über Litauen zu SowjetzeitenAnpassung und Fremdherrschaft

„Vilnius Poker“ von Ričardas Gavelis ist ein überbordender Roman über die sowjetische Besatzung des Baltikums. Nun ist er auf Deutsch erschienen.

„Vilnius Poker“ zählt zu den bedeutendsten literarischen Werken der litauischen Moderne. Hier zu sehen ist die Stadt 1976 Foto: Manfred Uhlenhut/bpk

Als Jazzstück taucht „Vilnius Poker“ in diesem monumentalen Roman zum ersten Mal auf. Der Protagonist Vytautas Vargalys besucht ein Underground-Konzert in einer Kirchenruine in Vilnius, und „Vilnius Poker“ ist der Titel eines Freejazz-Stücks, das sich jeder Linienförmigkeit widersetzt, das ständig Farben und Richtungen wechselt, das den Protagonisten in einen Wachtraum versetzt.

Vargalys lauscht gebannt der irrwitzigen Musik, den Trommeln, Glockenspielen und Gongs, lässt sich ganz vom Sound einnehmen. Das Konzert wird über mehrere Seiten beschrieben, es ist wie eine Epiphanie für ihn. Dabei müssen er und die anderen Besucher fürchten, „dass das Musizieren im entscheidenden Augenblick von Uniformierten brutal abgebrochen werden würde“.

„Vilnius Poker“ ist auch der Titel des Romans, den der litauische Schriftsteller Ričardas Gavelis in den achtziger Jahren geschrieben hat. In seinem Heimatland ist er bereits 1989 erschienen, er zählt zu den bedeutendsten literarischen Werken der litauischen Moderne überhaupt und ist der Roman schlechthin über die Zeit der sowjetischen Okkupation in dem baltischen Land.

Es sagt durchaus etwas über den Blick der westlichen Kultur auf die kleinen Länder Osteuropas, dass das Buch erst jetzt, 2024, auf Deutsch erschienen ist. Sebastian Guggolz, der sich in seinem eigenen Verlag schon um die litauische und osteuropäische Literatur verdient gemacht hat, hat ihn in der Klassikerreihe im S. Fischer Verlag veröffentlicht.

Der Roman

Ričardas Gavelis: „Vilnius Poker“. Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 687 Seiten, 32 Euro

Geschrieben wie ein experimentelles Musikstück

Der aus vier Teilen bestehende, fast 700 Seiten dicke Roman ist ähnlich unstringent und unkonventionell wie ein experimentelles Musikstück. Sein Inhalt ist drastisch, pornografisch, albtraumhaft – und er muss es sein. Im ersten Teil besteht „Vilnius Poker“ aus schier endlosen inneren Monologen der Hauptfigur Vytautas Vargalys, in denen sich dieser über politische Theo­rie und Platon, über Literatur von ­Beckett, Orwell, Joyce und Kafka (durchaus Referenzen für den Autor), über Diktaturen und über das Dasein in Vilnius in den Siebzigern und Achtzigern auslässt.

Vargalys’ Monologe sind das Kernstück des Romans, sie vermitteln das Bild einer trägen, von der Sowjet­herrschaft ermüdeten und zermürbten Stadt – die Schilderungen dürfen als Abbild der baltischen Staaten während der Breschnew-Ära und der Interimszeit bis zur Perestroika gelten (im Roman heißt das Staatsoberhaupt genialerweise „Leichenoid Breschnew“).

Autor Ričardas Gavelis, der 2002 im Alter von nur 51 Jahren gestorben ist, hier auf einem Bild von 1997 Foto: gezett/imago

Das Vilnius jener Zeit wird von ihm als „Geisterstadt“ mit „gesichtslosen Gestalten, die auf den Straßen herumlaufen“, beschrieben, als „kastrierte Stadt“. Was die Nazis und die Sowjets mit der Stadt gemacht haben, schwingt immer mit: „Die litauischen Viertel und die jüdischen Viertel – diese farbigen Städtchen in der Stadt – sind nicht mehr.“

Protagonist Vytautas Vargalys ist etwa Mitte fünfzig, arbeitet als Abteilungsleiter in einer Bibliothek und hat die unerfüllbare Aufgabe, den Katalog zu digitalisieren. Vargalys war einst im Widerstand gegen die Sowjets, wurde festgenommen, vom KGB gefoltert und in lange Lagerhaft gesteckt.

Diese Erfahrung hat ihn geprägt, er ist von Paranoia gezeichnet. Wenn er nicht durch die Straßen streunert, trinkt er, sucht Abwechslung in Jazzclubs und Erlösung im Sex. Vargalys betrauert den Tod des Universalgelehrten Gediminas Riauba, der sein Freund und Mentor war. Von ihm kommt Vargalys nicht ganz los, ebenso wenig von seiner Exfrau Irena, über die er ausgiebig referiert; so vergleicht er auch Stefanija Monkevič, seine Kollegin und spätere Begleiterin, mit ihr.

Lolita als Erlösungsfigur

Die Erlösungsfigur schlechthin ist für Vargalys aber eine Nabokov’sche Lolita-Figur, die sein Sexleben und vor allem seine Fantasien bestimmt. In diesem Fall ist Lolita Banytė-Žilienė oder „Lolka“ aber eine erwachsene Frau, die ebenfalls in der Bibliothek arbeitet und im Lauf des Romans grausam zu Tode kommt.

Während der erste Teil aus Vargalys’ Perspektive erzählt wird, folgen danach drei Kapitel aus der Sicht seines Bibliothekskollegen Martynas Poška (seine „Martschrift“), seiner Kollegin Stefanija und seines Lehrmeisters Gediminas Riauba, der, als Hund wiedergeboren, nach Vilnius zurückkehrt.

„Vilnius Poker“ ist ein Roman über den Totalitarismus, besonders im ersten Teil. Wenn die Personalpronomina großgeschrieben sind, weiß man, dass die Erzählerfigur von einer (staatlichen) Übermacht erzählt, der er sich unterlegen fühlt: „Das Fernsehen ist ihre magische Waffe, mit seiner Hilfe umzingeln SIE dich mit Rotten, Horden und Legionen von scheußlich auskanukten Kreaturen. SIE versuchen, dich davon zu überzeugen, diese Kreaturen seien echte, normale Vertreter der Gattung Mensch, und wenn du nicht bist wie sie – dann ist es deine eigene Schuld, dann bist du nicht normal.“

Auch die hier zitierte Wortschöpfung „Kanuke“ oder „kanuken“ erzählt von der sowjetischen Gesellschaft: ein Kanuke ist bei Gavelis mindestens ein Opportunist oder Mitläufer, eher noch ein Mensch, der willenlos vor sich hin existiert und so der Macht dient.

Lückenhafte Aufarbeitung

„Kastriert“ worden ist Vilnius erst im Nationalsozialismus und danach im Stalinismus; Autor Gavelis stellt beide Terrorregime vor allem in den Dialogen des Protagonisten mit Professor Boilus, einem weiteren Gelehrten, gegenüber. Ich wurde mit dem Zug direkt aus Auschwitz hierher gebracht – ohne Umstieg, ohne Visa. Wie ein Staffelstab – von Hitler direkt an Stalin. Nicht nur ich – wir alle … Millionen …“, sagt dieser.

Die Aufarbeitung konzentriert sich dabei bis heute in Litauen eher auf die stalinistische Herrschaft, die NS-Zeit wird in Vilnius vergleichsweise wenig verhandelt ­– etwa im Museum der Okkupationen und Freiheitskämpfe, wo dem KGB-Verbrechen unverhältnismäßig viel mehr Platz eingeräumt wird als dem Gestapo-Terror zwischen 1941 und 1944.

Neben den totalitären Epochen des 20. Jahrhunderts gibt es viele weitere Verweise auf die litauische Geschichte. Die Figur Gediminas spielt auf den gleichnamigen Großfürsten an, der aus Litauen im 14. Jahrhundert eine Großmacht machte. Dem Mythos nach bekam Gediminas in einem Traum von einem Eisernen Wolf den Auftrag zur Gründung der Stadt Vilnius; der Eiserne Wolf spielt auch beim Plot des Romans eine Rolle.

Zu Gediminas’ Zeit wurde Vilnius auch erstmals urkundlich als Hauptstadt Litauens erwähnt. Der Name Vytautas referiert hingegen auf Vytautas den Großen, den Enkel von Gediminas. Er war ebenfalls litauischer Herrscher, Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts.

Einfluss auf Kunst und Kultur

„Vilnius Poker“ ist der bedeutendste Roman von Ričardas Gavelis, der 2002 im Alter von nur 51 Jahren starb. Gavelis arbeitete zunächst als Physiker, ehe er sich dem Schreiben von Novellen, Romanen und Theaterstücken widmete. Bekannte Werke von ihm in Litauen sind „Vilniaus džiasas“ (1993, „Vilnius Jazz“) und „Paskutinioji žemės žmonių karta“ (1995, etwa: „Die letzte Generation der Menschen auf der Erde“).

Über sein Hauptwerk „Vilius Poker“, dessen Entwurf 1985 fertig war, sagte er einmal: „Erwischen sie mich damit, und noch keiner hat es gelesen – dann wird es auch keiner mehr lesen. Wohin ich selbst in diesem Fall gelangt wäre, daran bemühte ich mich, nicht zu denken.“ Bis heute beeinflusst „Vilnius Poker“ die litauische Kunst und Kultur. Zum 700-jährigen Stadtjubiläum eröffnete 2023 eine große Ausstellung zum Roman.

Besonders an „Vilnius Poker“ ist, dass auch die Litauer darin nicht aus der Verantwortung entlassen werden; ihre Angepasstheit ermöglicht erst das Fortbestehen der Fremdherrschaft. ­Gavelis schreibt entsprechend nicht nur über den Homo sovieticus, sondern auch über den Homo lithuanicus: „Der Homo lithuanicus leckt sich die Lippen vor Aufregung, wenn er die Oper über Pilėnai hört, aber Kalanta [litauischer Dissident, Anm d. A.] ist in ganz Litauen der Einzige gewesen, der sich selbst verbrannt hat. Alle anderen fügen sich über­aus tapfer in die Sklaverei“, heißt es in einer Passage. Freunde hat sich Gavelis mit diesem wahrhaftigen Roman sicher nirgends gemacht.

Soghaft und rhythmisch

Gavelis’ Sprache entwickelt einen starken Sog, dank Übersetzerin Claudia Sinnig hat sie auch im Deutschen einen tollen Rhythmus. „Vilnius Poker“ ist dennoch harte Lektüre, bei den Schilderungen von Lagerhaft, Folter und Vergewaltigung spart Gavelis schreckliche Details nicht aus. Frauen werden aus der Perspektive des Protagonisten als ihm und seinem Begehren dienende Figuren beschrieben.

So wie die Figur angelegt ist, muss man das aber nicht unbedingt affirmativ lesen. Es gibt bestürzende Parallelen zur Gegenwart, nicht nur hat man das Putin-Regime oft vor Augen, auch das Abkippen von Demokratien in die Diktatur scheint hier immer wieder Thema zu sein: „In der Bahnhofskneipe begannen in mir wieder alle Zweifel zu brodeln, wieder kam mir die einfache Frage in den Sinn: Was ist hier los? Plötzlich begriff ich, dass Menschen, ganze Nationen, die größten Länder auf genau diese Weise zugrunde gehen – sie stellen nicht rechtzeitig und laut die Frage: Was ist hier los? (Man erinnere sich nur an die Geburt von Nazideutschland.)“

Die Fäden hält der Autor gekonnt zusammen, und natürlich ist es auch kein Zufall, dass Jazzmusik so zentral vorkommt. Denn Vilinus war ein wichtiges Zentrum des Jazz in der Sowjet­zeit, über Litauens Grenzen hinaus wurde etwa das Ganelin Trio bekannt, eine in Intellektuellenkreisen der späten UdSSR beliebte Avantgardegruppe. Jazz war Freiraum, bot die Möglichkeit auszubrechen aus dem monotonen Alltag, konnte Widerstand sein.

„Jazz ist außerordentlich gefährlich für SIE, die der Welt den Gedanken übergestülpt haben, dass Musik das akribische Wiederholen von hundertmal gehörten, ausgeleierten Melodien und Regeln sei, dass Musizieren darin bestehen würde, auf dieselbe Weise dieselben Töne aus denselben Instrumenten herauszuholen“, heißt es in einer Romanpassage. Diese Freiheit des Jazz hat Gavelis in „Vilnius Poker“ durchaus auf das Genre des Romans übertragen.

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