: „Ich bin viel schneller gereizt“
Saseen Kawzally, 44, Schriftsteller und Schauspieler. Er lebt im Libanongebirge in einem Vorort von Beirut.
Ich bin alleinerziehender Vater einer dreijährigen Tochter. Als Alleinerziehender ist es sowieso nicht so einfach. Im Libanon gibt es wenige öffentliche Orte oder Aktivitäten für Kinder, die kostenlos sind. Und dann richten sich die meisten Angebote an Mütter. Als Mann kann ich auch keine Windeln auf öffentlichen Toiletten wechseln. Wenn es Wickeltische gibt, dann in den Frauenkabinen.
Ich wünsche mir für meine Tochter eine unbeschwerte Kindheit. Aber das ist nicht möglich. Diesen Sommer hatte die Vorschule wegen des Kriegs geschlossen. Aus Angst bin ich nicht mal mit meiner Tochter an den Strand gefahren.
Im Sommer hatte ich mit ihr eine Art Aufklärungsgespräch – über den Überschallknall. Das hört sich an wie richtige Bomben. Wir kennen Schüsse und Feuerwerkskörper von feierlichen Anlässen. Meine Tochter kennt daher laute Geräusche. Aber dieses Mal war es so, dass sie Angst bekam, weinte und zu mir rannte. Auch unser Hund drehte durch. Also habe ich sie gehalten, sie getröstet. Ich habe ihr gesagt, dass sie keine Angst haben muss. Dann habe ich ihr erklärt, dass das ein Flugzeug am Himmel ist. Wenn es schnell fliegt, macht es das laute Geräusch. Wenn sie das Geräusch dann hörte, sagte sie zu mir: „Papa, ein schnelles Flugzeug!“
Es war nicht das erste Gespräch. Vergangenes Jahr hatten wir schon ein Erdbeben, das unser Gebäude erschüttert hat. Da war sie jünger und ich glaube nicht, dass sie wirklich verstanden hat, dass die Erde wackelt. Ich habe am Bett gerüttelt und gesagt: „Siehst du, du brauchst keine Angst zu haben.“ Dann habe ich sie geschüttelt und den Vorhang und die Lampe, um ihr zu zeigen: Dinge können wackeln und es ist okay. Dann musste ich ihr das mit den Raketen und Bomben beibringen.
Solche Dinge erklären zu müssen, da fühlt man sich hilflos. Ich fühle mich klein, unbedeutend. Es gibt keine Sicherheit, und ich kann keine Sicherheit geben. Krieg bedeutet Stress: Ich bin viel schneller gereizt, verliere die Geduld, schnauze meine Tochter an. Ich bin die ganze Zeit kurz davor, meine Nerven zu verlieren. Ganz schlimm war es, wenn sie nicht bei mir, sondern selten mal bei ihrer Mutter war. Ich habe dann überlegt: Wenn jetzt etwas passiert, wie kann ich so schnell wie möglich zu ihr kommen? Wenn ich zur Arbeit gegangen oder generell aus dem Haus gegangen bin, habe ich genau geplant: Durch welche Straße gehe ich, in die Nähe von welchen Orten? Wir leben zum Glück in einer eigentlich sicheren Gegend. Aber aus Erfahrung weiß ich: Es gibt keine wirklich sicheren Gegenden. Das ist noch 1000-mal schwieriger als der tägliche Kram, denn dieser Gedanke kann dich wirklich kaputtmachen. Ein Kind großzuziehen ist sowieso schon, wie einen Berg zu besteigen. Aber ich habe gefühlt noch einen Rucksack voller Steine auf dem Rücken.
Ich selbst habe als Kind den Krieg durchlebt. Meine Eltern haben 20 Jahre lang im Krieg gelebt und ich 12 Jahre. Ich bin damit aufgewachsen, ständig umziehen zu müssen, je nachdem wo die Gefahr war. Ja, ich habe es überlebt, aber nicht unbeschadet überstanden. Und jetzt ist mein Kind davon betroffen. Das Trauma ist generationsübergreifend. Ich frage mich sogar, ob die Kinder meines Kindes später mal im Krieg aufwachsen werden.
Der Tod bedroht uns ständig. Dieses Gefühl nimmt uns sogar das letzte Quäntchen Kontrolle, das wir zu haben glaubten. Vor allem in einem Land wie dem Libanon, in dem es keine mentale Sicherheit gibt. Alleine das Überqueren der Straße ist schon gefährlich. Ich fühle mich so hilflos. Es ist außerhalb meiner Hände, meiner Kontrolle.
Deshalb hatte ich keine Notfalltasche gepackt, mit Pässen oder wichtigen Dingen. Ich möchte mich selbst nicht beunruhigen – und meine Tochter nicht verstören. Das ist sowieso nutzlos: Wenn du aus dem Haus fliehen musst, was bringt dir dann ein Pass?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen