piwik no script img

Hoffnung in Gaza„Ich schaue zum Himmel und flüstere, das ist das Ende“

Kann das wahr sein, geht dieser Krieg wirklich zu Ende?, fragt sich unser Autor. Da ist ein Gefühl von Freude, und eine Angst, die bleibt.

Tag eins nach der Verkündung einer möglichen Waffenruhe: Gaza-Stadt, 16. Januar Foto: Hasan N. H. Alzaanin/anadolu/picture allaince

L aute Stimmen kommen von den Zelten. Frauen jubeln, Kinder lachen und schreien vor Freude. Es ist der Moment, auf den jeder gewartet hat: die Ankündigung eines Waffenstillstands. Die Schreie vermischen sich und wir können nicht fassen, was passiert. Kann das wahr sein? Geht dieser Krieg tatsächlich zu Ende? Die Antwort ist: Ja.

Und doch, es bleiben noch drei Tage, bevor das Abkommen offiziell in Kraft treten soll. Wir treffen uns in den Straßen, sprechen miteinander, ohne wirklich zu verstehen, was wir fühlen. Mein Herz rennt, mein Atem wird lauter. Ich bin mir jeder Bewegung um mich herum ultrabewusst, höre jedes Geräusch, fühle die Präsenz von anderen. Ich schaue zum Himmel und flüstere: Das ist das Ende.

Ein Jahr und ein halbes haben wir auf diese Neuigkeiten gewartet. Während dieser Zeit ist vieles in uns gestorben, Emotionen, die wir nun wiederzufinden versuchen. Sie werden wiederkehren, so wie wir in unsere Häuser zurückkehren werden.

Unser Zuhause. Ich werde in mein Bett zurückkehren, zu meinen Büchern und zu meiner Tante. Meine Tante Nadia ist in Nordgaza geblieben, sie ist nie gegangen. Sie wartet auf mich.

Recherchefonds Ausland e.V.

Dieser Artikel wurde möglich durch das Engangement des Recherchefonds Ausland e.V. Wenn Sie weiterhin spannende Recherchen lesen möchten, können ihn hier unterstützen.

➡ Jetzt mitmachen!

Ich stelle mir vor, wie meine Anziehsachen dort im Schrank auf mich warten. Warum sollten sie nicht? Ich habe meine Anziehsachen immer wie meine engsten Freunde behandelt, habe sie in meinen Schrank gelegt, sodass sie meinen Geruch annehmen. Aber was ist mit meinen Büchern – warten sie noch auf mich?

Ich bin mir jeder Bewegung ultrabewusst um mich herum, höre jedes Geräusch, fühle die Präsenz von anderen. Ich schaue zum Himmel und flüstere: Das ist das Ende

Vor zwei Jahren hat mir Professor Munir Fasheh fünf seiner neu publizierten Bücher aus Jordanien geschickt. Niemand sonst hatte seine Bücher in Gaza. Aber ich musste sie zurücklassen, als ich geflohen bin, um mein Leben zu retten. Ich erinnere mich, wie die israelische Besatzungsmacht unsere Häuser besetzt und unsere Bibliotheken verbrannt hat. Was ist, wenn ich zurückkehre, um nichts mehr dort zu finden?

Drei Tage bleiben noch, bis wir zurückkönnen in unsere Häuser, in eine Nachbarschaft, die viel verloren hat von dem, was sie ausgemacht hat. Diese Tage fühlen sich unerträglich schwer und angsteinflößend an. Die israelische Besatzung hat nicht aufgehört mit den Bombardierungen. Sie versuchen, uns unserer Freude zu berauben, unseres kleinen Gefühls von Frieden. Es sterben noch Menschen.

Ein Telefonanruf von meiner Geliebten unterbricht das Chaos um mich herum. Mein Herzschlag beschleunigt sich, und ich will schreien, aber ich kann nicht. Sie sagt zu mir: „Jetzt können wir endlich unsere Leben leben.“ Und in dem Moment realisiere ich: Meine Liebe ist zu einer Zuflucht vor dem Krieg geworden. Und dieser Sonntag könnte der Tag werden, an dem wir gemeinsam feiern. Wir werden weit reisen, lernen, leben und Freude finden ohne Furcht. Wartet ihr auf uns?

Esam Hani Hajjaj (27) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Laut Führung der Hamas in Katar war der 7. Oktober ein riesiger Triumph.

    Wohlgemerkt, das sagt sie jetzt.

    Also hat sich aus ihrer Sicht die ganze Zerstörung gelohnt. All die Toten in Gaza waren es offenbar wert.

    Und das bringt die Menschen dort überhaupt nicht zum Nachdenken über ihre Führer?

  • Ein sehr poetischer Artikel. Sehr bewegend geschrieben.

    Allerdings bombardiert die IDF nicht um "Freude zu rauben", sondern um die Terroristen auszuschalten die am 7. Oktober, vergewaltigt, verstümmelt, gemordet haben

    taz.de/Ein-Jahr-na...-Oktober/!6038224/

    Ich kann den Wunsch auch verstehen, dass die Israelis abziehen, aber mir fehlt hier der Wunsch frei von der Hamas zu leben?



    Fürchtet sich der Autor dies zu schreiben?



    Nachvollziehbar wäre es. Wer Homosexuelle von Dächern schmeißt geht meist mit Kritikern nicht freundlicher um.

    "Sie sagt zu mir: „Jetzt können wir endlich unsere Leben leben.“

    Ich freue mich für den Autor und seine Geliebte. Ehrlich.

    Und ich hoffe ebenfalls die Mädchen und Frauen die täglich von der Hamas als Geiseln vergewaltigt wurden können auch eines Tages wieder ihr Leben leben. Allerdings glaube ich da nicht dran.