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Ost-West-Debatte in der LausitzKnusperflocke und die Identitätsschnipsel

Vor Kurzem zog unsere Autorin in die Lausitz. Im dritten Teil ihrer Serie im Vorfeld der Bundestagswahl geht es darum, worüber sich der Osten aufregt.

Junge Männer im verlassenen Dorf Mühlrose Foto: Daniel Chatard/laif

Zunächst fand ich es vermessen, in der taz-Themenwoche zu Emanzipation über das ost- und westdeutsche Verhältnis zu schreiben. Emanzipation bedeutet, frei oder eigenständig zu werden, und impliziert, dass der Osten das bisher nicht ist.

Ich entschied mich dann aber trotzdem es zu tun, nachdem ich „Ostdeutschland“ in die Google-Suche tippte und die Ergebnisse lauteten: „Wirtschaftlicher Aufholprozess kommt nicht voran“, „Wiedervereinigung gescheitert?“, „Geschichte der Radikalisierung“, „rückläufige Bevölkerungsentwicklung“, „keine gleichen Lebensverhältnisse“ und „warum junge Menschen Ostdeutschland verlassen“. Na, das macht doch Lust auf mehr!

Ich selbst bin knapp 10 Jahre nach der Wende geboren. Für meine Eltern war „Ostdeutsch-Sein“ ein großer Teil ihrer Identität. Ich hingegen hatte lange nicht das Gefühl, das habe etwas mit mir zu tun. Zumindest nicht, bis es mich für mein Studium „rüber“ nach Baden-Württemberg zog. Als eine der sehr wenigen Studierenden aus dem Osten bekam ich diesen Identitätsschnipsel dort aber zugeschrieben.

Aus meinem sächsischen Dorf war ich es gewohnt, dass die Leute andauernd – zugegeben nicht immer wertschätzend – über den Westen sprachen. Deshalb irritierte es mich, wie im Gegensatz dazu meine Mitstudierenden abseits von Nazi-Klischees kaum etwas über die neuen Bundesländer wussten. Während sich Ostdeutsche häufig am Thema Ost-West rieben, dachten viele Westdeutsche scheinbar recht wenig über das Thema nach.

„Geschichten aus der Lausitz“

Dies ist der zweite von sechs Texten der Reihe „Geschichten aus der Lausitz“. Sie erscheinen wöchentlich bis zur Bundestagswahl am 23. 2. Sie finden sie auf dem Autorinnenprofil von Linda Leibhold.

Aufgrund oder parallel zum Erstarken des Rechtspopulismus vor allem in strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands rückte die Thematik in den vergangenen Jahren immer mehr in den gesellschaftlichen Fokus. In der öffentlichen Darstellung bewegt sich Ostdeutschland dabei häufig irgendwo zwischen Sorgenkind und Schandfleck.

Als die Autorin und Filmemacherin Grit Lemke im vergangenen Herbst den Bestseller-Autor Dirk Oschmann („Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“) nach Hoyerswerda zum Gespräch einlud, fanden sich Gerda und ich in einem unüblich prall gefüllten Saal wieder.

Ich habe einige Freunde aus Ostdeutschland und wir haben uns immer nett unterhalten

Ein westdeutscher Mann

Die Veranstaltung begann mit der Abfrage, wer aus dem Publikum aus Westdeutschland stamme (fünf Hände) und wer ostdeutscher Herkunft sei (alle anderen). Im Zwiegespräch thematisierten die beiden Ex­per­t*innen die Klassiker der Ost-West-Unterschiede: Lebensbedingungen und -erwartungen, Einkommen, Vermögen und Repräsentanz in Führungs- und Machtpositionen. Neben diesen messbaren Ungleichheiten diskutierten die Au­to­r*innen auch Fragen zur ostdeutschen Opferrolle und westdeutschen Arroganz. So weit, so bekannt.

Interessant wurde es, als das Podium dem Publikum die Möglichkeit eröffnete, Fragen zu stellen. Kurze Stille. Schließlich hob ein mittelalter Mann die Hand. In einem ausschweifenden Redebeitrag echauffierte er sich über die heutige Veranstaltung. Er sei selbst einer der wenigen anwesenden Westdeutschen hier und fühle sich überaus ungerecht behandelt: „Ich habe einige sehr gute Freunde aus Ostdeutschland und wir haben uns immer nett unterhalten. Hier eine Stunde lang so spalterisch Probleme zu schüren – das hilft sicher keinem weiter!“ Spannend.

Stimmung wurde hitziger

Es meldete sich eine junge Frau zu Wort, sichtlich aufgebracht: „Dass sich nach allem Gesagten ausgerechnet ein Wessi als erstes äußert und solch einen Kommentar ablässt – das ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten.“ Im Grunde war die folgende Dreiviertelstunde ein wutentbranntes Ringen darüber, wer wo noch schlechter verdiene und wie am härtesten getroffen sei. Die Stimmung wurde zunehmend hitziger, mir war körperlich unwohl. Ein Kassierer aus Fulda beschwerte sich über unterirdische Arbeitsbedingungen, woraufhin eine Krankenschwester aus Hoyerswerda erklärte, warum es bei ihr noch schlimmer sei.

Gerda flüsterte mir ins Ohr: „Ich glaub, wir müssen hier raus, ehe es handgreiflich wird.“ So etwas hatte ich bei einer Kulturveranstaltung noch nicht erlebt. Im Raum waren so viel Wut und Frust und Vorwürfe, dass es mir die Sprache verschlug. Mit einer merklich betroffenen Abmoderation wurde der Abend schließlich für beendet erklärt. Schnell raus. Das Ganze wollte mir nicht so richtig aus dem Kopf gehen. Es ist mehr als verständlich, dass Ungerechtigkeiten für Frust und Wut sorgen. Aber warum feinden sich dann ausgerechnet die Leute gegenseitig an, die doch offensichtlich alle unter ähnlich schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen leiden?

Immer öfter habe ich den Eindruck, dass viele Kämpfe an vermeintlichen Trennlinien ausgetragen werden, beispielsweise Ost und West oder auch Stadt und Land. Als dienten sie stellvertretend zum Spannungsabbau der eigentlichen Ungerechtigkeiten in einer hierarchisierten Gesellschaft. Haben also wirklich ein westdeutscher Kassierer und eine ostdeutsche Krankenschwester einen Konflikt, oder liegt das eigentliche Problem vielmehr in der ungleichen Machtverteilung zwischen wenigen Eliten und der breiten Bevölkerung? Vielleicht ist das auch nur der linke Idealismus, der da aus mir spricht, wer weiß das schon.

Mir bleibt die Erkenntnis: Natürlich gibt es keine „universelle, ostdeutsche Identität“, die sich irgendwie integrieren oder vom Westen emanzipieren müsste. Oder gar könnte. Was es sehr wohl gibt, sind anhaltende strukturelle Benachteiligungen – insbesondere in den ländlichen Regionen des Ostens. Das spüren die Leute. Manchmal habe ich den Eindruck, wir verwenden mehr Energie darauf, über Politikverdrossenheit und Demokratieabkehr zu diskutieren, als diese grundlegenden Ungerechtigkeitserfahrungen ernst zu nehmen und für gleichwertige Lebensverhältnisse einzustehen. Diese hochkomplexe Gemengelage wird uns sicher noch über Jahre beschäftigen. Deshalb verbleibe ich vorerst damit, der eingangs erwähnten Schlagwortsuche wenigstens ein bisschen was entgegenzusetzen.

Hier eine unsortierte Liste an Dingen, die ich persönlich mit Ostdeutschland (oder Sachsen oder Dorf oder wie auch immer) verbinde und super finde:

Pragmatismus, Knusperflocken, Humor, Senioren-Kegeln, Arbeiterbiografien, zu starke und zu billige Rum-Cola auf dem Dorffest, Radio PSR, Einfallsreichtum, „Muss ja“ als Antwort, wenn man sich erkundigt, wie es jemandem geht, Bautzner Senf, zu ernst Skat spielen, praktisches Denken, geblümte Plastiktischdecken, Hilfsbereitschaft.

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7 Kommentare

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  • Die freie Marktwirtschaft lässt die Kluft immer größer werden zwischen arm und reich.

    Getreten wird nach unten, gegen die noch Schwächeren.

    Gewählt werden jetzt die eigenen Metzger, denn die anderen haben auch nichts getan für die armen und schwachen Menschen.

    Es gibt leider keine Mehrheitlichen in Deutschland für sozial gerechte Politik.

    Also zerfleischt sich die breite Masse gegenseitig.

  • Radio PSR - mir wird übel. Grusliger ist nur der MDR und den Namen des schlimmsten Senders hab ich verdrängt. Knusperflocken und Arbeiterbiografien werden reichen müssen. Ich bin in der Oberlausitz aufgewachsen, aber auch immer ganz froh wenn ich nach Dresden zurück fahre.

  • Schöner Text. Symptomatisch (?) der Kommentar des Westdeutschen. So ähnlich hatte ich es in Halle mal bei einem Vortrag von Steffen Mau. Da sagte allen Ernstes eine ursprünglich westdeutsche Professorin, dass sie es ja wohl auch schwer hatte, als sie in den 90ern nach Halle kam, um Professorin zu werden (!). Und dass es jetzt auch mal gut sein muss mit dem Thematisieren der Unterschiede.



    Aber Radio PSR?! Im Ernst?

  • Ja, da funktioniert die Methode „Teile und herrsche“ leider hervorragend! Die Linke ist zu schwach (ökonomisch und in der publizistischen Reichweite, auch in den sozialen Medien), um diesen Erzählungen etwas entgegen zu setzen.



    „Muss ja“ gibt es übrigens auch in Ostwestfalen!

  • Teile und herrsche. Funktioniert immer.

  • Wieso wollen die Leute heutzutage eigentlich immer alles erklärt haben? Lernt man denn im wiedervereinigten Deutschland nicht selber zu denken?

    Warum sich ausgerechnet diejenigen Leute gegenseitig anfeinden, die unter ähnlich schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen leiden, scheint mir relativ klar zu sein: Mit denen, die für die Ungerechtigkeit und den Frust verantwortlich sind, haben die an der Basis doch gar keinen Kontakt. Wir sollen sie sich denn mit jemandem zoffen, den sie nie zu Gesicht kriegen?

    Und überhaupt: Wird denn „der Basis“ nicht auch im Osten seit über 30 Jahren per permanenter Gehirnwäsche beigebracht, dass nur der Sieg gegen alle gleich minder Bemittelten sie glücklich und wohlhabend macht? Der Aufstieg - die Karotte vorm Maul aller Esel…

    Solidarität haben die Leute verlernt. Sogar auf dem Dorf. Sie haben jetzt Westgeld, da können sie Hilfe für kaufen im Notfall. Vorausgesetzt, das Konto ist voll. Und dafür muss man nach rechts, links, hinten und unten treten. Nach oben und vorn muss man buckeln. Auch da her der Frust: Pyramiden sind an der Basis recht breit. An der Spitze jedoch ist es relativ eng. Und das soll auch so sein. Selten ist wertvoll, nicht wahr?

  • Aber was davon ist Ost und West und welchen Anteil hat die herkömmliche landsmannschaftliche Abmeierei. Also Bayern und Preußen oder Ostfriesen beispielsweise.