Doku „Misty“ über Pianist Erroll Garner: Der Mann, für den das Klavier erfunden wurde
Erroll Garner war ein genialer, früh verstorbener Jazzpianist. Und er war ein Mann seiner Zeit – wie jetzt der Dokumentarfilm „Misty“ zeigt.
Die bewegendste Szene dieses Musikfilms hat mit Musik nichts zu tun. Im Los Angeles der Gegenwart fährt ein Auto durch eine elegante Wohngegend, darin die etwa 70-jährige Rosalyn Noisette. Das Auto hält, die Frau öffnet das Fenster und schaut auf ein Holzhaus mit großem Vorgarten. „It’s very nice“, sagt sie mit träumerischem Blick. „Ich wette, das Dach hat keine Lecks.“
Welche Wege kann ein Leben nehmen? Wie wäre es verlaufen, wenn dieser Mann anders gehandelt hätte? Der Dokumentarfilm „Misty – The Erroll Garner Story“ ist das Porträt eines brillanten Jazzpianisten, sie stellt aber auch die ganz großen Fragen nach Verantwortung, nach Anerkennung, nach verpasster Liebe.
Wie wäre mein Leben wohl verlaufen, wenn ich ohne Armut gelebt hätte, in einem Haus ohne Lecks, fragt sich Garners letzte Lebenspartnerin Rosalyn, die seit dessen Tod im Jahre 1977 offensichtlich schwere Zeiten durchgemacht hat. Antworten gibt es keine, der Film kommentiert mit der melancholischen Musik eines nach außen hin immer gut gelaunten Pianisten.
Der Schweizer Filmemacher Georges Gachot ist ein Spezialist für feinfühlige Musikdokus. Er drehte Porträts über Martha Argerich und Claude Debussy und begab sich für „Wo bist du, João Gilberto?“ auf die kunstvoll-bedächtige Suche nach einer Bossa-nova-Legende. Ähnlich poetisch fällt „Misty“ aus, betitelt nach Garners gleichnamiger Ballade. Gachot hat viele Jahre daran gearbeitet, hat Weggefährten und Verwandte von Garner aufgespürt und ist wochenlang mit ihnen durch die USA gereist.
„Misty – The Erroll Garner Story“. Regie: Georges Gachot. Deutschland/Schweiz/Frankreich 2024, 100 Min.
Gachot verzichtet weitgehend auf klassische Interview-Szenarien; in kontrastreichem Schwarz-Weiß zeigt er eine Jamsession in Garners Geburtsstadt Pittsburgh. Bassist Ernest McCarty und Schlagzeuger Jimmie Smith sind betagte Herren, aber swingen können sie noch immer und mit Witz von ihrem Bandleader aus den Siebzigern erzählen. Er habe nie einen Song zweimal auf die gleiche Weise gespielt, sagt Smith.
Klavierspielen fiel ihm so leicht wie das Atmen
Erroll Garner, geboren 1921, war vor allem – hier passt das vielbemühte Adjektiv – genial. Er hatte sich, inspiriert von Art Tatum, das Klavierspielen selbst beigebracht, lernte nie Notenlesen. Das Klavierspiel schien ihm so leichtzufallen wie anderen das Atmen. Mit rasenden Fingern wechselte er in Sekundenbruchteilen von Swing zu Stride Piano, veränderte ständig das Tempo. Seine Begleiter wussten nie, was er spielen würde, nicht einmal die Tonart sagte der Mann mit der glänzenden Pomade-Frisur an. Das Magazin Newsweek nannte ihn den Mann, für den das Klavier erfunden wurde.
Garners Virtuosität wurde nie zum Selbstzweck. Stets hatte er das Publikum im Blick. Die Doku zeigt ihn beim Spiel einer atemberaubenden Version von „Yesterday“, eingängig, aber kitschfrei und herrlich verspielt. Solche Aufnahmen waren der Grund dafür, dass Garner zum ersten Jazzkünstler wurde, der mit einem Album mehr als eine Million Dollar verdiente: mit dem 1955 erschienen Live-Album „Concert by the Sea“.
Die soliden Finanzen verdankte er auch seiner langjährigen Managerin Martha Glaser, einer Frau, die jeden Aspekt seines Lebens kontrollierte, ihren Klienten aber auch beschützte. Andere Stars seiner Zeit wie Louis Armstrong mussten gerade in den Südstaaten Hass und Hetze erdulden – Garner tourte dort nie. Rassismus? Habe er nie erlebt, sagt der Pianist in einem Fernsehinterview. Eine kaum glaubhafte Aussage.
Privates war damals tatsächlich noch privat
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Trailer „Misty“
„Durch die Musik hat er sich ein Ventil für seine irdischen Zwänge verschafft“, sagt Bassist McCarty, „wir haben uns nur mit dem Himmlischen befasst.“
„Misty“ zeigt einige der vielen Fernsehauftritte des Pianisten, Garner schwitzt, lacht, seine Augen blitzen in die Kamera. Momente abseits der Bühne wurden kaum eingefangen; Garner bekommt Blumensträuße, Garner springt ins Taxi. Privates war damals tatsächlich noch privat.
So bleibt der Klaviervirtuose ein perfekt gekleidetes Mysterium. „Ich mache happy music“, sagt er. Seine Familie versucht vergeblich, das Bild zu ergänzen. Er sei immer freundlich gewesen, habe einen Sinn für die Natur gehabt, so seine 30 Jahre jüngere Lebenspartnerin Rosalyn Noisette, die mit ihm in Los Angeles gelebt hatte. Aber er habe sich eben auch nie um den Papierkram gekümmert. So ging Rosalyn nach seinem überraschenden Tod im Jahr 1977 leer aus, das Erbe ging an Garners Managerin. Der Film zeigt eine zahnlose Rosalyn – kein Gebiss ohne Krankenversicherung.
Die Vaterschaft bestritten
Schwermütiger noch wirkt Tochter Kim; Erroll Garner hatte sie ein Leben lang verleugnet. Die Mutter bekam nach der Trennung in den Sechzigern 1.000 Dollar dafür, einen Vertrag zu unterschreiben, der die Vaterschaft negierte. Kim Garner konnte es erst Jahrzehnte später ertragen, die Musik ihres Vaters zu hören.
So ist „Misty“ auch eine Gesellschaftsanalyse der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert – und sogar im 21. Jahrhundert. Ungleich verteilte Vermögen, struktureller Rassismus, der vor allem Frauen mit geringer Berufsausbildung trifft – Themen, die die USA auch in den nächsten Jahren betreffen werden.
„Kim Garner hat bis heute keinen Rappen vom Nachlass oder Tantiemen erhalten“, schreibt Gachot in einer E-Mail. Die Ex-Partnerin immerhin klingt gegen Ende des Filmes so, als habe sie ihren Frieden mit dem mysteriösen Jazzgenie gemacht. „So war eben die Zeit“, sagt Rosalyn.
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