: Tour de Steinway
Ein Wanderweg im Harz führt an die Orte, an denen die Klavierbauerdynastie ihre Anfänge nahm, bevor sie nach New York auswanderte und weltberühmt wurde
Aus dem Harz Reimar Paul
In der Nacht hat es etwas Niederschlag gegeben. Wie mit Zuckerguss sind die Bäume und Sträucher im Steinway-Park am südöstlichen Ende des Harzrandstädtchens Seesen von einem feinen weißen Schneefilm überzogen. Fröhlich plätschert das Flüsschen Schildau durch den Kurpark, dunkelgrün schimmert das Wasser in den Teichen.
Im Park selbst ist an diesem Vormittag nicht viel los. Außer einem Joggerpaar, das hier unverdrossen seine Runden dreht, und einigen Seniorinnen und Senioren, die mit ihren Hunden auf den matschigen Wegen Gassi gehen, lässt sich bei nasskaltem Nebelwetter und Temperaturen um null Grad niemand draußen blicken.
Der Park, genauer: Eine Infotafel neben der ein wenig abseits liegenden Konzertmuschel markiert den Startpunkt für den „Steinway-Trail“. Der kulturgeschichtliche Wanderweg führt auf den Spuren der aus dieser Region stammenden Klavierbauerdynastie Steinweg/Steinway über rund 14 Kilometer ins Harzdorf Wolfshagen.
Bevor man sich auf den Weg macht, empfiehlt sich ein Besuch des Städtischen Museums. Dort ist nämlich eine ganze Etage der Familiengeschichte von Steinway & Sons gewidmet. Der im benachbarten Wolfshagen geborene Heinrich Engelhard Steinweg (1797–1871) kam 1825 nach Seesen, ließ sich dort als Tischler nieder und baute in seinem Wohnhaus ab 1836 seine ersten Klaviere und Flügel. 1850 wanderte er in die USA aus, wo der Markt boomte: Das entstehende Bürgertum wollte Klavier spielen. 1853 änderte Heinrich Engelhard Steinweg seinen Namen in Henry E. Steinway und gründete mit seinen Söhnen in New York die später so erfolgreiche Firma.
In der ersten Etage des Museums prangt auf einem Podest der wuchtige Flügel, der 1853 als erster Steinway in New York gebaut wurde. „Der ist zwar noch spielbar, klingt aber schrecklich“, weiß die Museumsangestellte am Empfang. An der Wand hängen Fotos des Steinweg’schen Hauses in Seesen, eine Reproduktion der Verkaufsanzeige, ein Gemälde zeigt den Meister höchstpersönlich beim Klavierbau.
Zwölf Kinder hat Steinwegs Frau Juliane in Seesen zur Welt gebracht, drei sind kurz nach der Geburt gestorben, sechs sind mit dem Ehepaar emigriert. Der älteste Sohn Theodor blieb zunächst in Deutschland und gründete in Braunschweig die Klavierfabrik „C. F. Theodor Steinweg“. Er verkaufte sie, als auch er in den USA gebraucht wurde. Die Braunschweiger Fabrik hieß fortan „Grotrian – Steinweg“.
Mit zahlreichen Patenten revolutionierten vor allem die Brüder Theodor und Henry jr. den Instrumentenbau, sie gelten als Schöpfer des modernen Klaviers. Ihr jüngerer Bruder William (1835–1896) steuerte kaufmännisches Talent zum Erfolg des Unternehmens bei. Auf seine Initiative hin kam es 1880 zur Gründung von „Steinway & Sons, Hamburg“. Nach der Eröffnung weiterer Filialen unter anderem in Tokio und Schanghai übernahm 1972 der Medienkonzern CBS das Unternehmen, 2013 ging es für mehr als 500 Millionen Dollar an den Hedgefonds-Manager John Paulson.
William Steinway blieb auch aus der Ferne stets Seesen verbunden. Er unterstützte die Armen der Stadt mit Spenden und stiftete den Kurpark. Zum Dank ernannten ihn die Stadtväter zum Ehrenbürger. Die Eröffnung des Steinway-Parks im Jahr 1899 erlebte William nicht mehr. An ihn erinnert dort aber, neben einem der Teiche, ein zwei Meter hoher Gedenkstein aus Granit. Williams Kopf ziert als überdimensionierter Scherenschnitt auch das Dach der Konzertmuschel.
Markiert mit einem stilisierten Piano, das mal auf Felssteine gemalt, mal als große Holzskulptur am Wegrand aufgestellt ist, kann niemand den „Steinway-Trail“ verfehlen. Gelegentlich mäßig ansteigend, bisweilen einige Bäche querend, windet sich der Weg in nordwestlicher Richtung in den Harz hinein.
Insgesamt acht Infotafeln in Form des Rims – so nennt man das Gehäuse des Flügels – erzählen die Geschichte der Steinwegs/Steinways und vermitteln Hintergrundinformationen zum Klavierbau in Deutschland und in aller Welt. Weitere Spuren aus dem Leben der Familie Steinway finden sich im Wald zunächst aber nicht. Allerdings soll Heinrich Steinweg hier vor seinem Umzug nach Seesen des Öfteren entlang spaziert sein, um seine spätere Frau in Seesen zu besuchen.
Auf dem Weg können Wanderer insgesamt sechs Steinway-Trail-Stempel sammeln. Klares Wetter vorausgesetzt, bieten sich immer wieder Ausblicke über das Leinetal hinweg bis ins Weserbergland. Und auf große Flächen mit abgestorbenen Fichten, aus denen hier und da einzelne verkrüppelte Bäume ragen – Hinweise sowohl auf die fortschreitende Klimakrise als auch auf erzhaltiges Gestein im Boden. Der Harz war seit dem Mittelalter eine bedeutende Bergbauregion; Silber, Kupfer, Blei und später auch Zink wurden bis ins 20. Jahrhundert hinein in großem Stil abgebaut. Die touristische Infrastruktur am Steinway-Trail ist nur spärlich ausgebaut.
Lediglich in der von Mai bis Oktober bewirtschafteten Neckelnbach-Hütte ist eine Einkehr möglich, sie ist allerdings bereits nach einer halben Stunde Fußmarsch erreicht. Auch im etwas abseits der Strecke gelegenen Gasthaus an der Innerste-Talsperre gibt es Gelegenheit zur Rast. Das Harzer Quellwasser, mit dem auch Großstädte wie Bremen und Göttingen versorgt werden, ist jedoch von hervorragender Qualität und kann bedenkenlos aus den überall talwärts fließenden Bächen geschöpft werden.
Nach knapp vier in gemächlichem Tempo absolvierten Stunden erreichen wir Wolfshagen. 2.300 Einwohner leben in dem Luftkurort, viele vom Tourismus. Es gibt mehrere Hotels und Cafés, einen Campingplatz und am Waldrand ein schön gelegenes Freibad.
In der Ortsmitte, gegenüber der Bushaltestelle, steht als Blickfang ein hölzerner Flügel. Er soll, na klar, an Heinrich Engelhard Steinweg erinnern, den prominentesten Sohn des Dorfs. Das Haus, in dem er geboren wurde und aufwuchs, suchen wir allerdings vergeblich. In der Straße, die heute Fuhrmannsweg heißt, hängt nur noch eine Tafel. Das Gebäude selbst wurde 1906 durch ein großes Feuer zerstört, erfahren wir später. Das Taufbecken in der evangelischen St.-Thomas-Kirche, in dem Heinrich getauft wurde, ist aber noch zu besichtigen – der 1739 fertiggestellte und denkmalgeschützte Bau ist die größte Fachwerkkirche im Braunschweiger Land.
2011 riefen Honoratioren des Dorfs den Verein „Wolfshäger Steinway“ ins Leben. „Steinway war im eigenen Geburtsort unterrepräsentiert. Das war eine Katastrophe“, lässt sich Jochen Bremer, Mitgründer und ehemaliger Vorsitzender, auf der Homepage des Vereins zitieren. Eine der ersten Aktionen war das Geldsammeln für die Anschaffung eines eigenen Steinway-Flügels. Seit Dezember 2012 ist das 1907 gebaute Instrument mit der frühen Produktionsnummer 125.787 von Steinway & Sons im Besitz des Vereins. Der Flügel hat seinen Platz in der „Villa Heinrich“, einer eigens angefertigten Holzgarage, in dem die nötige Luftfeuchtigkeit und Temperatur gehalten werden kann.
Inzwischen veranstaltet der Verein in der Wolfshäger Festhalle, in der sich früher der Schützenverein traf, das „Steinway-Festival“. Dabei wird natürlich auch auf dem Steinway-Flügel von 1907 gespielt. Die Pianisten seien „ganz begeistert“ von dem alten Instrument und seiner Palette an warmen Klangfarben, berichtet der jetzige Vereinsvorsitzende Noah Flurin Vinzens, selbst Pianist. „Die sagen, ‚Kann ich das Instrument nicht mitnehmen?‘ Aber wir wollen es natürlich behalten.“
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