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Syrien: Hoffnung und Sorgen

Erste Wahlen im Land wird es wohl erst in vier Jahren geben. Wie soll es bis dahin weitergehen?

Aus Damaskus Serena Bilanceri

Syrien ordnet sich neu. Nach dem Sturz von Baschar al-Assad formierte sich die von der Islamistenmiliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) dominierte Übergangsregierung rasch. Behörden und Institutionen richten sich neu aus, der Sicherheitsapparat soll umgestaltet werden. Doch die erste freie Wahl wird wohl erst in vier Jahren stattfinden. Was erwartet die Sy­re­r*in­nen in dieser langen Übergangszeit?

Seit Wochen ist eine nationale Dialogkonferenz geplant. Verschiedene Gruppen der syrischen Gesellschaft sollen dort den künftigen Kurs des Landes bestimmen. Wer konkret daran teilnimmt, bleibt unklar, ebenso das Datum. Immer mehr Par­tei­ver­tre­te­r*in­nen und Ak­ti­vis­t*in­nen strömen nach Jahren im Exil zurück nach Damaskus.

So wie Sanharib Barsoum, Parteivorsitzender der christlichen Syriac Union Party, der die nördliche Stadt Qamischli in den kurdischen Provinzen verlassen hat, um über die Zukunft Syriens zu beraten. „Wir wissen noch nicht, was wir erwarten sollen, es gibt noch keine klare Vision. Trotz der Erklärungen der neuen Regierung über die Lage der Chris­t*in­nen und ihre Rechte herrschen noch Sorgen“, sagt der Politiker.

Die neuen Herrscher gehören fast ausschließlich der sunnitisch-muslimischen Mehrheit an, in der Rebellenhochburg Idlib hatte die HTS während des Krieges eine Regierung nach islamischen Grundlagen errichtet. Es stelle sich die wichtige Frage, wie eine demokratische Regierung in Syrien aussehen soll, sagt Barsoum. Ein föderales System, ähnlich dem deutschen Modell, wäre denkbar.

In Syrien leben verschiedene ethnische und religiöse Gruppen, die immer nebeneinander, oft aber auch gegeneinander leben. Der Bürgerkrieg verlief entlang religiöser Bruchlinien, auch ausländische Mächte verstrickten sich mit ihren jeweiligen Interessen. Im Nordosten, wo Barsoum lebt, kämpfen weiterhin von der Türkei unterstützte Kräfte gegen kurdische Milizen. Die Kur­d*in­nen haben dort eine eigene Verwaltung aufgebaut, deren Zukunft ungewiss ist. Die Türkei, die gute Beziehungen zu den neuen Machthabern pflegt, sieht diese Autonomie kritisch. Nun sollen die zahlreichen Milizen des Landes in eine staatliche Armee integriert werden. Die Kur­d*in­nen sind bisher nicht Teil des Abkommens.

Im Süden trugen die drusischen Gemeinschaften entscheidend zum Sturz Assads bei. Jetzt fürchten sie, beim politischen Neuaufbau übergangen zu werden. Gleichzeitig kämpfen sie mit wachsenden Spannungen in den Grenzgebieten. Der Unmut über die israelische Besetzung der Pufferzonen und des Bergs Hermon wächst. Dorf­be­woh­ne­r*in­nen berichten von Übergriffen israelischer Sol­da­t*in­nen

Die neue Regierung besteht aktuell vor allem aus Männern mit Verbindungen zur HTS oder zu Idlib. Die Machthaber betonen ihren Willen zur Inklusion. Außenminister Asaad al-Schibani sprach bei seinem Besuch in Saudi-Arabien von einer „Vision“ für eine Regierung, die alle Teile der syrischen Gesellschaft einbezieht.

Doch Postenvergabe, Sicherheitsprobleme und konservative Äußerungen sorgen für Kritik. Das Verteidigungsministerium veröffentlichte kürzlich eine Liste von Offizieren, die in die künftige Armee aufsteigen sollen – als Anerkennung für ihren Einsatz gegen Assad. Be­ob­ach­te­r*in­nen fanden darauf auch Namen ausländischer islamistischer Kämpfer.

Berichte über Gewalt gegen Ala­wi­t*in­nen und ehemalige Regimeanhänger*innen, teils von Unbekannte verübt, teils von Kämpfern, beunruhigen die Minderheiten. Inmitten dieser Unsicherheit blickt das Land auf den angekündigten Nationaldialog, der einen ersten Ausblick auf Syriens Zukunft geben könnte.

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