: Die Macht von Pizza in Sachsen
Vor Kurzem zog unsere Autorin in die Lausitz, eine Region zwischen Angst und Zuversicht, rechten Strukturen und zivilem Engagement. Die zweite Folge der neuen Text-Serie handelt von einem Abend, an dem sich alle mal kennenlernen
Von Linda Leibhold
Als ich Mitte letzten Jahres meinen Freund*innen von Gerdas und meinem Umzug ins Lausitzer Hinterland berichtet habe, sind die Reaktionen oft skeptisch ausgefallen: „Echt, aufs sächsische Dorf? Zu den Nazis?!“
Auch bei mir löst der enorme Rechtsruck zunehmend Wut, Sorge und Angst aus. In diesen Gesprächen war ich dennoch überraschend defensiv. Das mag einerseits daran liegen, dass ich selbst in einem sächsischen Dorf aufgewachsen bin und mich dem zugehörig fühle. Ich mag ländliche Räume. Und ich mag Sachsen. Andererseits empfand ich die zugrundeliegende Haltung als arrogant. Als könne man das Problem des steigenden Rechtsrucks lösen, indem man die ostdeutschen Dörfer und Kleinstädte künftig einfach großräumiger umfährt.
Im Schreiben darüber fühle ich mich nach wie vor etwas tapsig. Selbstverständlich möchte ich keinesfalls menschenfeindliche Positionen bagatellisieren. Ich bin überzeugt, dass man den Politiker*innen der AfD – insbesondere in Sachsen – keine Bühne bieten sollte. Gleichzeitig finde ich es jedoch unklug, alle Wähler*innen dieser Partei (oder gar eine gesamte Lokalbevölkerung) pauschal als Nazis abzustempeln. Immer wieder erlebe ich unmittelbar, wie solch eine kategorische Abwertung von der AfD als Brandbeschleuniger genutzt wird, Hass und Abgrenzung weiter zu befeuern.
So fing ich also bei Diskussionen im Freundeskreis plötzlich an, den Osten zu verteidigen und vor Pauschalisierungen zu warnen. Denen gehe ich natürlich genau dann selbst auf den Leim, wenn ich eine so große Gruppe von Menschen mit unterschiedlichsten Positionen zusammenfasse als „den Osten“.
Ich bin sicher keine Expertin. Aber ich möchte zumindest versuchen, mehr ins Gespräch zu kommen. Mehr zuzuhören. Mich mehr darauf zu konzentrieren, was mich mit Leuten verbindet. Auch wenn dieser Vorsatz konsequenterweise wieder und wieder an der Realität scheitert. Wenn zwei junge, links-progressive Frauen auf ein Dorf in der Lausitz ziehen, ist es ein Leichtes, Unterschiede zu finden. Die suchen die Alteingesessenen ebenso wie die Zugezogen, also ich. Gänzlich ablegen kann ich das nicht, doch zumindest in vielen Momenten mit Humor nehmen. Das hilft.
Die anfängliche Vorbehalte waren keine Einbahnstraße. Auch Gerda und ich wurden von unseren neuen Nachbar*innen zunächst skeptisch beäugt: Unser kleiner Hof ist das letzte Grundstück an einer abgehenden Seitenstraße. Lediglich ein Wendekreis trennt uns von der Sackgasse, die das Ortsende markiert. Umso verwunderter waren wir, dass anfangs Dutzende Autos unsere Straße hinunterfuhren, wendeten, nur um wieder in Richtung der Hauptstraße weiterzuziehen.
„Na, die Dörfler sind halt neugierig, wer hier jetzt wohnt!“, klärte uns unsere Nachbarin Angelika auf. Einfach mal bei uns geklingelt hatte bisher keiner. Gerda und ich beschlossen, den ersten Schritt zu machen und steckten eine Einladung zum gemeinsamen Pizzaessen in jeden Briefkasten der Straße. Allein die Geste schien das Eis ein stückweit zu brechen, denn einen Tag später spazierte ein älterer Herr in unsere Richtung. Er grüßte freundlich, drehte (ich denke mir das nicht aus) zu Fuß eine Runde im Wendekreis und blieb schließlich vor uns stehen: „Ich heiße Willi und wohne mit meiner Frau hier in der Sieben. Wenn ihr mit irgendwas Hilfe braucht, sagt Bescheid.“ Damit verabschiedete er sich so rasch, wie er gekommen war. „Ach so, ich soll fragen: trocken, halbtrocken oder lieblich?“, erkundigte er sich noch schnell im Gehen. „Halbtrocken.“
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Besagter Pizzaabend stand schließlich vor der Tür und mit ihm überraschend pünktlich knapp dreißig uns bis dato unbekannte Leute. Ich war nervös, Gerda strahlte wie gewohnt vor Charme. Mit so viel Besuch hatten wir nicht gerechnet, sodass wir aus allen Ecken zusätzliche Tische und Stühle zu einer langen Tafel heranschleppten. Einige Gäste mussten an einer ausgedienten Massageliege Platz nehmen, aber das schien niemanden zu stören. Der Abend wurde herrlich. Die Unterhaltungen waren angeregt, die Pizza schmeckte gut und der halbtrockene Sekt noch besser.
Ich lernte: Unsere neue Dorfgemeinschaft besteht überwiegend aus Rentner*innen, die meist ihr ganzes Leben hier verbracht haben. Außerdem gibt es die „Jugend“ (sprich, Mittvierziger), die im Zuge der Familiengründung zurück aufs Dorf gezogen sind. Wieder und wieder wurde betont, dass es so ein Straßenfest hier noch nie gegeben habe und das Dorf buchstäblich ausstirbt. „Die jungen Leute hält hier eben nix mehr – die gehen nach Dresden oder Leipzig oder direkt rüber“, erzählte mir ein älteres Paar, spürbar bedrückt von der Abwesenheit ihrer eigenen Kinder und Enkel. Eine besondere Herausforderung seien zudem die „ewigen Junggesellen“.
Noch vor wenigen Tagen war ich über eine erschütternde Erhebung des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung von 2007 gestolpert, laut der selbst in den nördlichen Polarkreisregionen mehr junge Frauen leben als in Ostdeutschland. 2022 betrug der Männerüberschuss in manchen Regionen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stattliche 20 Prozent. So wird eine abstrakte Statistik zu greifbaren Lebensgeschichten.
Die Älteren erzählten von ihren damaligen Berufen und wie sich aus ihrer Sicht die Lausitz seit der Wende verändert hat. Die Art, wie die Leute sprechen, unterscheidet sich stark von der, die ich gewohnt bin. Aber worüber sie reden, berührt viele der Themen, die auch mich umtreiben, wenngleich sie nicht immer als solche gelabelt werden: Strukturwandel, Arbeit und Rente, Unterschiede zwischen Stadt und Land oder Ost und West. Fragen nach dem guten Leben. Die Gespräche wurden an keiner Stelle parteipolitisch, was ich erwartet, ehrlich gesagt, sogar befürchtet hatte. Ich musste mir eingestehen – es überraschte mich, wie nett die Leute waren. Während ich mich über meine arrogante Voreingenommenheit ärgerte, fiel es mir dennoch schwer zusammenzubringen, dass statistisch gesehen jede*r zweite der Anwesenden noch vor wenigen Wochen das Kreuz bei der AfD gesetzt hatte. Und jetzt saßen wir hier gemütlich beieinander und wurden gefüttert mit praktischen Informationen, wo man den besten Kompost herbekommt, wer im Dorf so das Sagen hat und warum man die „Betreten Verboten“-Schilder an den Tagebauseen getrost ignorieren kann. Solche Situationen fühlen sich zuweilen an wie ein Reallabor der Ambiguitätstoleranz. Mit dem feinen Unterschied, dass das Ganze eben kein distanziertes Experiment ist, sondern unser Alltag.
Das bedeutete nicht, dass ich politische Themen hier künftig vermeiden wollte. Aber es hat mir meine neuen Nachbar*innen multidimensionaler gemacht: Wir leben hier eben nicht nur zwischen rund 50 Prozent AfD-Wähler*innen, sondern neben (Groß-)Eltern, Hobbygärtner*innen, Handwerksprofis, Leseratten, Heimatverbundenen und Reisefans. Ob das die Gesamtsituation jetzt besser oder schlechter macht, obliegt mir nicht zu beurteilen. Es macht sie in jedem Fall echter.
Auch mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl ist davon auszugehen, dass Rechtspopulist*innen hier einen großen Teil der Stimmen einfahren. Im Gespräch zu sein; Unterschiede aushalten zu können; an den richtigen Stellen weich zu bleiben – all das ist sicherlich kein Patent gegen Rechtsruck. Dennoch fühlt es sich für mich in jedem Fall konstruktiver an, neben Dissens auch Momente der Verbundenheit zuzulassen. Und gerade als bei mir diese schöne Erkenntnis eingesetzt hatte, fragte einer der Nachbarn, ob wir nicht mal bisschen Rammstein oder die Onkelz anmachen können.
Dies ist der zweite von sechs Texten der Reihe „Geschichten aus der Lausitz“. Sie erscheinen wöchentlich bis zur Bundestagswahl am 23. 2.
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