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Teilhabe in SchulenBezirke vertrödeln echte Inklusion

Neukölln plant ein weiteres Förderzentrum für beeinträchtigte Kinder. Das Institut für Menschenrechte sieht darin einen schweren Rechtverstoß.

Inklusion bedeutet, dass Kinder mit und ohne Förderbedarf gemeinsam lernen. Beide Gruppen haben das Recht darauf Foto: Karsten Thielker

Verstößt Neukölln gegen die Menschenrechte, weil der Bezirk Inklusion verhindert? Diese Frage steht am späten Mittwochabend in der Versammlung der Bezirksverordneten (BVV) im Raum. Die Mitglieder arbeiten sich im letzten Teil der Sitzung durch die Liste von bisher vertagten Beschlüssen. Darunter auch der von der SPD eingebrachte Antrag mit der Überschrift: Förderzentrum Neukölln. Der Inhalt: „Das Bezirksamt wird gebeten zu prüfen, ob die Möglichkeit besteht, eine weitere Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt in Neukölln einzurichten.“ Neben den Sozialdemokraten hat sich auch die CDU im Bildungsausschuss dafür ausgesprochen.

Linke und Grüne lehnen den Antrag ab. „Der Ausbau ist ein klarer Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention“, meldet sich Philipp Dehne vehement zu Wort, er ist bildungspolitischer Sprecher der Linken-Fraktion in der BVV. „Anstatt Inklusion voranzubringen, will die SPD zurück in ein segregierendes Schulsystem mit ausgrenzenden Schulen nur für Schüler mit Behinderung“, sagt er.

In seiner Kritik weiß er eine gewichtige Institution an seiner Seite: Das deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) kritisiert die BVV in einer Stellungnahme für diesen Antrag. Damit würde der „Aufbau eines inklusiven Bildungssystems weiter verzögert oder gar verhindert“. Das Sonderschulwesen werde gestärkt, die Segregation von Schü­le­r*in­nen mit Behinderungen zementiert, schreibt das DIMR in seiner Stellungnahme. Es appelliert an die Bezirksverordneten, den Antrag nicht anzunehmen.

Das DIMR ist die nationale unabhängige Menschenrechtsinstitution der Bundesrepublik. Es ist unter anderem gesetzlich dazu verpflichtet, die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu befördern und zu überwachen. Auch das Land Berlin hat das DIMR seit 2021 damit beauftragt, die Umsetzung der UN-Konvention in Berlin zu begleiten. Die sieht ganz klar vor, dass Schü­le­r*in­nen mit und ohne Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden.

Zu pauschal?

Nicht nur beim Ausbau von inklusiven Schulplätzen, auch in der Förderung steht Berlin derzeit in der Kritik: Die Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) gefährde „durch die geplante Umverteilung sonderpädagogischer Förderstunden zu Lasten von inklusiven Grundschulen die schulische Inklusion“, kritisiert die Bildungspolitikerin Marianne Burkert-Eulitz (Grüne). „Es kann nicht sein, dass Schulen mit bereits hohen Bedarfen noch weniger Mittel bekommen. Schulen, die inklusiv arbeiten, brauchen mehr Unterstützung. Die nun geplante Gleichmacherei geht auf Kosten der Schwächsten“, sagt sie.

Zuvor hatte bereits ein breites Bündnis von Bildungsverbänden die geplante Umverteilung sonderpädagogischer Förderstunden nach einem pauschalen Modell kritisiert. Dies gehe zu Lasten von inklusiven Grundschulen, schreiben die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der Landeselternausschuss, der Grundschulverband, der Verband Sonderpädagogik und das Berliner Bündnis für schulische Inklusion in einer gemeinsamen Erklärung von Mittwoch.

Hintergrund ist, dass nach einer neuen Verwaltungsvorschrift künftig alle Grundschulen pauschal dieselbe Anzahl von Sonderpädagogikstunden erhalten – unabhängig vom Förderbedarf der Schü­le­r*in­nen an der jeweiligen Schule. Die Bildungsverwaltung kann die Kritik der Verbände nicht nachvollziehen. „Es werden keine Mittel gekürzt“, sagt ein Sprecher. „Die Regelung ist im Konsens mit den Schulleitungsverbänden besprochen worden.“ Eine pauschale Stundenzumessung sei der Wunsch der Schulleiterverbände gewesen. „Nachsteuerungen sind möglich“, betont der Sprecher.

Martina Regulin, Vorsitzende der GEW, kritisiert das. Für die Nachsteuerung gäbe es „überhaupt kein transparentes Verfahren“, so die Bildungsgewerkschaft. „Vor diesem Hintergrund ist die Änderung eine Gefahr für die inklusive Entwicklung an den Berliner Grundschulen.“ Verändert wird das Verfahren zur Zuweisung von Lehrkräftestunden für die Förderung in den Bereichen Lernen, emotionale/soziale Entwicklung und Sprache.

„Schulen, die überdurchschnittlich inklusiv arbeiten, werden in dem neuen Modell klar benachteiligt werden“, erklärt Norman Heise vom Landeselternausschuss. „Für die sogenannte Nachsteuerung müssten eindeutige Kriterien entwickelt werden.“ Es sei kein Vorteil erkennbar. Heise und die Bünd­nis­part­ne­r*in­nen fordern die Senatsverwaltung auf, die Planungen zu verwerfen und ein „echtes verlässliches Verfahren“ zu entwickeln. (usch)

Schwerwiegender Verstoß

„Das ist das Recht der Kinder“, betont auch Dehne. Und er weist darauf hin, dass der vom DIMR monierte Verstoß tatsächlich schwerwiegend ist: „Die UN-Behindertenkonvention hat den Rang eines Bundesgesetzes“, sagt er. Die Bundesländer seien an die Vorgaben aus der UN-Konvention gebunden und zur Umsetzung verpflichtet. „Dagegen möchte die SPD verstoßen“, sagt er.

Der Bezirk hätte stattdessen die Möglichkeit, inklusive Schwerpunktschulen als Übergangslösung zu echter Inklusion auszubauen. Das sind Schulen, die räumlich und personell besser ausgestattet sind und an denen Kinder und Jugendliche mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam lernen.

„Raten Sie mal, wie viele solcher Schwerpunktschulen Neukölln hat? Keine“, sagt Dehne. Demgegenüber sei Neukölln der Bezirk mit den meisten Förderzentren. „Und in so einer Situation beantragt die SPD ein weiteres Förderzentrum? Ich kann es eigentlich nicht fassen“, sagt er, das sei ein unglaublicher Verstoß. Am Ende hat er seine Redezeit bis auf die letzte Sekunde ausgereizt.

Der Bezirk braucht dringend mehr Schulplätze für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Das liegt auch daran, dass der Bedarf angestiegen ist, vor allem im Bereich der geistigen Entwicklung. Und vermutlich sogar mit Dunkelfeld, da „Kinder teils auch nicht diagnostiziert seien“. Damit begründen die Verordneten von SPD und CDU ihre Unterstützung für den Antrag.

Kinder könnten gar nicht beschult werden

„Es wäre auch ein Verstoß gegen die Menschenrechte, wenn die Kinder nicht beschult werden“, sagt Marina Reichenbach (SPD), die dem Bildungsausschuss vorsitzt. Beide Fraktionen betonen auch, dass es ein „Prüfauftrag“ sei und dass auch ein Förderzentrum zur Schwerpunktschule werden könne „wenn irgendwann mehr Geld da ist“.

Sie begründen ihren Antrag auch damit, dass Eltern solche Schulen bevorzugen – ein Argument, gegen das Verfechter der Inklusion einwenden, dass Eltern unter den jetzigen Bedingungen von halbherzig verstandener Inklusion keine wirkliche Wahl hätten – und dass Elternwille auch nicht der Maßstab sei. Die Verordneten nehmen den Antrag am Ende mit 29 zu 19 Stimmen an.

„Es braucht kein Provisorium, aus dem irgendwann etwas besseres wird, sondern politische Konzepte“, hatte Susann Worschech, bildungspolitische Sprecherin der Grünen in der BVV, zuvor gefordert. Doch daran mangelt es nicht nur in Neukölln: Während der Senat auf seiner Webseite die Schwerpunktschulen als wichtigen Schritt zur Inklusion bewirbt, planen weitere Bezirke den Ausbau von reinen Förderzentren. Darunter etwa Reinickendorf, Spandau, Marzahn und Steglitz-Zehlendorf.

Menschenrechtsinstitut ermahnt auch das Land

Auch das hatte das DIMR bereits kritisiert. Es ermahnt Berlin, angesichts dieses Ausbaus die Vorgaben der UN-Konvention, des Landesgleichberechtigungsgesetzes und des Koalitionsvertrages einzuhalten. „Das Versprechen, die Inklusion an den Berliner Schulen zu unterstützen und qualitativ weiterzuentwickeln, wird durch die Errichtung neuer Förderschulen zu reiner Rhetorik“, heißt es vom DIRM.

Denn selbst bei den inklusiven Schwerpunktschulen, die der Senat als Übergangslösung feiert, sieht das DIMR Handlungsbedarf. Es bestehe „die Pflicht eine Entwicklung voranzutreiben, die die Schwerpunktschulen zugunsten der inklusiven Schule überwindet“, betonen sie. Von diesem Schritt ist nicht nur Neukölln noch weit entfernt: Auch Lichtenberg und Pankow haben bisher keine einzige Schwerpunktschule. Und auch andere Bezirke, in denen der Ausbau von Förderzentren im Raum steht, haben lediglich eine einzige.

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