: Mythen, die nicht sterben wollen
Vor 50 Jahren starb der spanische Diktator Franco. Zwar wird seine Herrschaft noch heute mystifiziert, doch es hat sich auch eine Erinnerungskultur etabliert, zeigt „Franco. General – Diktator – Mythos“
Von Reiner Wandler
Der Tod des Diktators Francisco Franco und die Rückkehr Spaniens zur Demokratie jähren sich 2025 zum 50. Mal. Das ist Grund zum Feiern – aber nicht für alle. Während die Zentralregierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez rund 100 Gedenkfeiern unter dem Motto „Spanien in Freiheit“ ankündigt, läuft Spaniens Rechte Sturm. Ihr gilt der „Generalísimo“ bis heute nicht als Tyrann, sondern als Verteidiger und Modernisierer des Vaterlands. Sánchez sei „völlig verrückt geworden“, sagte etwa die Präsidentin der Hauptstadtregion Madrid, Isabel Díaz Ayuso, und warf dem spanischen Regierungschef vor, er wolle die „Straßen in Brand stecken“ und „Gewalt schüren“, da er mit seiner Veranstaltungsreihe der extremen Linken eine Bühne biete. Sie selbst werde sich an den Gedenkfeiern nicht beteiligen.
Dies ist nur ein Beispiel für die Spaltung der spanischen Gesellschaft, die sich auch in der Geschichtsschreibung innerhalb und außerhalb des Landes niederschlägt, die der deutsch-spanische Historiker Carlos Collado Seidel in seinem Buch „Franco. General – Diktator – Mythos“ untersucht. Der Autor nahm den bevorstehenden 50. Todestag des Diktators zum Anlass, sein zehn Jahre altes Buch mit dem selben Titel grundlegend zu überarbeiten und zu erweitern. In sein Werk haben nun auch die in den vergangenen zehn Jahren erschienenen Biografien des spanischen Diktators sowie der Fortschritt in Sachen Erinnerungskultur Eingang gefunden.
Das Buch ist eine gut zu lesende, kritische Analyse der Geschichtsschreibung zu Franco, eingebettet in die Ereignisse der Zeitgeschichte und gekonnt vermischt mit Francos Biografie selbst. Das 13 Seiten lange Literaturverzeichnis zeigt, wie umfangreich die analysierte Lektüre war.
„Franco stellt für die einen eine ‚überragende Persönlichkeit‘ dar, dessen Herrschaft als Erfolgsgeschichte verstanden wird. Von Kritikern wird er stattdessen vor allem als brutal und derart grausam wahrgenommen, dass sogar der Begriff des ‚spanischen Holocaust‘ bemüht worden ist“, schreibt der Professor der Universität Marburg.
Während die einen den grausamen Bürgerkrieg und die anschließenden Repression mit weit über 130.000 Opfern, die bis heute irgendwo in Massengräbern verscharrt liegen, in den Vordergrund stellen, schwelgen die anderen in Erinnerungen und pflegen die Mythen des Franquismus, die der Rechten in Spanien weiterhin heilig sind.
Collado Seidel arbeitet sich gründlich ab an eben jenen Mythen, die sich um den Diktator ranken und die auch 50 Jahre nach seinem Tod in Teilen der Geschichtsschreibung weiterleben: Das Bild Francos als integren Herrschers, der nicht korrupt wahr, stellt sich heute als ebenso falsch heraus wie der Mythos, dank des Staatsstreichs des Generalísimos, der zum Bürgerkrieg führte, sei Spanien vor einer bevorstehenden kommunistischen Machtübernahme gerettet worden. Der Autor falsifiziert auch die Behauptung, Spanien sei im zweiten Weltkrieg neutral gewesen.
Carlos Collado Seidel: „Franco. General – Diktator – Mythos“. Kohlhammer, Stuttgart 2025. 318 Seiten mit 6 Abb., 32 Euro
Ihm weiterhin wohlgesinnte Historiker sehen den Diktator als „Vater des spanischen Wirtschaftswunders“ und halten ihn sogar selbst für denjenigen, der die Demokratie in die Wege geleitet habe, indem er König Juan Carlos I. zu seinem Nachfolger erklärte. Collado Seidel zeigt in seinem Buch, wie all diese Mythen unverdrossen weiter verbreitetet werden, obwohl sie sich längst als unwahr herausgestellt haben.
In zwei völlig neuen Kapiteln analysiert Seidel die anhaltende Kontroverse um die erinnerungspolitische Entwicklung in Spanien vom völligen Verdrängen der Vergangenheit in den 1980er und 1990er Jahren bis hin zum Entstehen einer Erinnerungskultur in den vergangenen 20 Jahren. Diese noch relativ neue Erinnerungskultur ist in Spanien mehr und mehr in den gesellschaftlichen Mittelpunkt gerückt. Massengräber wurden gesucht, geöffnet, die Opfer den Familien übergeben.
Straßennamen, die Schergen des Bürgerkriegs und der Diktatur huldigen, wurden aus dem Straßenbild verbannt, auch wenn mancherorts – so etwa in der Hauptstadt Madrid – die rechte Stadtverwaltung dies teilweise verhinderte. Selbst der Leichnam Francos wurde aus der von ihm einst selbst in Auftrag gegebenen Grabstätte, der in Fels gehauenen Kathedrale in den Bergen nördlich der Hauptstadt Madrid, auf einen kleinen Friedhof verlegt.
Das sogenannte Tal der Gefallenen, in dem Franco ruhte und in dessen Felsgalerien über 34.000 Gefallene beider Seiten des Bürgerkriegs liegen, soll nun zur Gedenkstätte aller werden. Aber auch das geht nicht ohne Polemik ab. „In dieser Auseinandersetzung geht es längst nicht nur um einzelne Aspekte, sondern um die grundsätzliche historische Bewertung der Persönlichkeit und des Wirkens Francos“, erklärt Collado Seidel.
Der Autor kommt zum Schluss, dass 50 Jahre nach Ende der Diktatur in Gestalt der Erinnerungskultur ein „tief empfundenes Bedürfnis“ zum Ausdruck komme, „das in seiner Bedeutung für die spanische Gesellschaft durchaus vergleichbar mit der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen“ sei. Nach Jahrzehnten des Schweigens habe sich „die Generation der Enkel der Aufarbeitung der Vergangenheit verschrieben“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen