: „Wir brauchen bessere Übergänge“
Mit Simone Oldenburg führt vielleicht zum letzten Mal eine Linkspolitikerin die Bildungsministerkonferenz an. Wie sie für mehr Chancengleichheit sorgen möchte, wofür sie der Ampel dankbar ist und was die Republik von ihrer Heimat Mecklenburg-Vorpommern lernen kann
Interview Ralf Pauli
taz: Seit der Regierungsbildung in Thüringen Mitte Dezember sind Sie die einzig verbliebene linke Bildungsministerin im Land. Nur noch in Bremen ist die Linkspartei sonst in Regierungsverantwortung. Und jetzt droht Ihre Partei auch noch aus dem Bundestag zu fliegen. Wie nahe geht Ihnen das?
Simone Oldenburg: Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass sich die Linkspartei in der Krise befindet. Im Januar haben wir einen Parteitag. Dort werden wir analysieren, unter welchen Konstellationen es uns gelingen kann, in den Bundestag einzuziehen. Es hängt alles am seidenen Faden. Für Resignation ist aber keine Zeit.
taz: Vergangenen Freitag haben Sie den Vorsitz der Bildungsministerkonferenz übernommen. Als Motto für die einjährige Amtszeit haben Sie gewählt: „Mehr Bildung ist drin. Für alle.“ Klingt utopisch im notorischen Chancenungleichheitsland Deutschland. Wie wollen Sie dahin kommen?
Oldenburg: Wir brauchen bessere Übergänge, vor allem zwischen Kita und Grundschule. Das ist entscheidend. Wichtig ist auch eine Politik der zweiten Chance. Dafür müssen wir Kinder und Jugendliche besser begleiten. In Mecklenburg-Vorpommern haben wir deshalb ein Frühwarnsystem entwickelt. Wir beobachten Kinder also in ihrer Lernentwicklung. Wenn es Anzeichen für ein Misslingen des Schuljahres gibt, greift das System und wir suchen nach individuellen Lösungen, wie die Versetzung oder der Schulabschluss doch noch erreicht werden kann. Solche mühsamen Wege müssen wir gehen, wenn wir Chancenungerechtigkeit verringern wollen.
taz: Im vergangenen Jahr hat das Münchner Ifo-Institut erstmals untersucht, wie gerecht oder ungerecht die Bildungssysteme der einzelnen Bundesländer sind. Ergebnis: Die Bildungschancen sind überall ungleich, bei Ihnen in Mecklenburg-Vorpommern aber weniger stark als in anderen Ländern. Abgesehen vom Frühwarmsystem: Was können sich die anderen von Ihnen abschauen?
Oldenburg: In der Bildungsministerkonferenz möchte ich einen Austausch anregen: Was bietet welches Land für gelingendes Lernen? Davon können wir partizipieren, ohne alles neu erfinden zu müssen. Ich lerne zum Beispiel viel von Hamburg. Etwa wie sich dort stetig die Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbessert haben oder auch, wie wichtig evidenzbasierte Entscheidungen sind. Das längere gemeinsame Lernen ist in Mecklenburg-Vorpommern ein erfolgreicher Weg. Bei uns bilden die fünfte und sechste Klasse eine schulartunabhängige Orientierungsstufe, erst danach erfolgt die Aufteilung in die verschiedenen Schularten: Gymnasium, Regionale Schule (die die früheren Haupt- und Realschulen vereint, Anm. der Red.) oder Gesamtschule. Das hilft, um die Abstände zwischen den Schülerinnen und Schülern zu verringern.
taz: Zu diesem Schluss kommt auch die Ifo-Studie: Wenn die Schüler:innen länger gemeinsam lernen, wie auch in Berlin und Brandenburg, steigt die Wahrscheinlichkeit für benachteiligte Schüler:innen, es aufs Gymnasium zu schaffen. Die meisten Ihrer Amtskolleg:innen wollen aber nicht über solche „Strukturfragen“ sprechen. Kommt das Thema in Ihrer Amtszeit dennoch auf den Tisch?
Oldenburg: Natürlich, auch das gehört zum positiven Austausch. Längeres gemeinsames Lernen ist nach meiner Auffassung zentral für mehr Chancengerechtigkeit. Ob und wie es auch für andere Länder eine Möglichkeit ist, darüber kann geredet werden.
taz: Bildungsforscher:innen loben das „Startchancen-Programm“ der Ampel, das im Sommer angelaufen ist und insgesamt 4.000 sogenannte Brennpunktschulen für zehn Jahre unterstützt. Es soll die Zahl der leistungsschwachen Schüler:innen in Mathe und Deutsch an den teilnehmenden Schüler:innen bis Ende der Laufzeit halbieren. Ist das aus Ihrer Sicht realistisch?
Oldenburg: Ja, ich denke schon. Zum ersten Mal haben wir ein Programm mit einer so langen Laufzeit. Ich bin froh über die zehn Jahre – dahinter steckt die Einsicht, dass es in der Bildung eine lange Zeit braucht, bis Erfolge sichtbar werden. Es kann die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler nur erhöhen. Klar ist aber auch, dass nach zehn Jahren natürlich nicht alle leistungsschwächeren Kinder in Deutsch und Mathematik ins Mittelfeld aufrücken. Das ist illusorisch. Das Startchancen-Programm ist dafür ein wichtiger Schritt. Wir brauchen aber viele Maßnahmen, die ineinandergreifen. Ein möglichst umfassendes Ganztagsangebot oder die Stärkung der basalen Kompetenzen an Grundschulen.
taz: Die Mittel aus dem Startchancen-Programm werden – zumindest teilweise – nach sozialen Kriterien verteilt. Ein absolutes Novum bei Bund-Länder-Programmen. Bei der kürzlich getroffenen Einigung zum Digitalpakt 2.0 ist davon jedoch keine Rede. Warum eigentlich nicht? Die Bedarfe bei den Kommunen klaffen doch auch extrem auseinander.
Oldenburg: Das Startchancen-Programm ist eine Ausnahme, weil es ganz konkret um die individuellen Leistungen und die sozialräumlichen Bedingungen der Schülerinnen und Schüler geht. Die Frage hier war, was es braucht, um den entsprechenden Kindern zu helfen. Beim Digitalpakt aber geht es um die technische Ausstattung und wie die Schulträger eine digitale Infrastruktur aufbauen können. Das ist etwas anderes. Ich finde richtig, dass der Digitalpakt 2.0 bei der Mittelvergabe so gestaltet ist wie sein Vorgänger. Bei künftigen Bund-Länder-Programmen muss abgewogen werden, welches die Zielsetzung der Unterstützung ist.
taz: Zurück zur Chancengleichheit: Immer mehr Länder erkennen, dass sie mehr in die frühkindliche Bildung investieren müssen. Sie halten in Mecklenburg-Vorpommern die Kita komplett gebührenfrei und haben die Fachkraft-Kind-Relation im Kindergarten auf 1 zu 14 verbessert – Expert:innen empfehlen jedoch halb so viele Kinder pro Erzieher:in. Warum haben Sie den Schlüssel nicht noch stärker verbessert?
Neue Strukturen Im Sommer 2024 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen, ihre Gremien neu zu ordnen. So gibt es in diesem Jahr für alle drei Kernbereiche der KMK – Bildung, Wissenschaft, Kultur – eigenständige Konferenzen. Für die Schulpolitik ist demnach nun die Bildungs-MK zuständig, die KMK fungiert als Dach der drei Teilkonferenzen.
Neues Personal Neben Simone Oldenburg (Bildungs-MK) sind auch die Kultur- und Wissenschafts-MK neu besetzt: mit Sachsens Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU) sowie Mecklenburg-Vorpommerns Wissenschaftsministerin Bettina Martin (SPD). (taz)
Oldenburg: Wir geben in Mecklenburg-Vorpommern allein in diesem Jahr rund eine Milliarde Euro für Kitas aus. Uns ist wichtig, dass die Betreuung für die Familien kostenlos ist und dass alle Kinder einen Platz bekommen. Man kann über die Gruppengröße reden. Wir müssen hier auch besser werden, keine Frage. Aber Schritt für Schritt. Zunächst hat Priorität, dass wir allen Eltern ein Angebot unterbreiten können. Und das gelingt: 94,5 Prozent der Kinder gehen bei uns in die Kita. Jedes Kind bekommt sofort einen Platz – Wartelisten gibt es bei uns nicht.
taz: Ihnen hilft, dass Sie in Mecklenburg-Vorpommern als Bildungsministerin auch für Kitas zuständig sind. In anderen Ländern und im Bund ist das nicht so. Bis zum vergangenen Jahr gab es auch keinen regelmäßigen Austausch zwischen den 16 Familien- und den 16 Bildungsminister:innen. In welchen Themen müssen Sie künftig besser zusammenarbeiten?
Oldenburg: Wir bereiten gerade die Punkte für die erste der beiden gemeinsamen Sitzungen 2025 vor. Es gibt viel zu besprechen: Der Bund hat noch keinen Haushalt für dieses Jahr. Ob der Bund wie versprochen zwei Milliarden Euro für die Kitaqualität gibt und welchen Schwerpunkt die neue Bundesregierung hier legt, sind natürlich drängende Punkte. Ein Termin bei dem oder der neuen Bundesfamilienminister:in ist für mich deshalb genauso wichtig wie der Termin im Bundesbildungsministerium. Grundsätzlich bin ich überzeugt: Gut ist, wenn wir Bildung vom Anfang bis zum Ende aus einer Hand gestalten.
taz: Haben Sie ein Beispiel?
Oldenburg: Nehmen Sie die Basiskompetenzen. Wir haben dafür die Stunden für Deutsch und Mathematik an den Grundschulen erhöht und in diesem Schuljahr zudem in den Klassen eins bis vier ein Leseband von 20 Minuten pro Tag eingeführt. Diese Förderung greift aber noch besser, wenn wir bereits in der Kita mit der Sprachförderung beginnen. Wenn ein Kind nicht richtig sprechen kann, dann wird es nicht richtig lesen und schreiben lernen können. Und dann kommt alles Weitere in Verzug. Wir führen in Mecklenburg-Vorpommern deshalb auch das Programm Sprachkitas, aus dem der Bund ausgestiegen ist, fort.
Simone Oldenburg,
55 Jahre, ist Ministerin für Bildung und Kindertagesförderung in Mecklenburg-Vorpommern. Im Januar 2025 hat sie turnusmäßig den Vorsitz der Bildungsministerkonferenz übernommen. Oldenburg ist Mitglied der Linkspartei und hat als Lehrerin sowie Schulleiterin gearbeitet.
taz: Was halten Sie von einem Startchancen-Programm für Kitas, wie es SPD und Grüne in ihren Bundestagswahlprogrammen fordern?
Oldenburg: Viel. Wir brauchen ein Startchancen-Programm für Kitas. Und zwar für alle Kitas in Deutschland. Dann sind wirklich die Chancen von Beginn an gegeben. Deswegen werde ich als Präsidentin der Bildungsministerkonferenz auch das Gespräch mit der neuen Bundesfamilienministerin oder dem neuen Bundesfamilienminister suchen.
taz: Welche Bildungsbaustellen wollen Sie neben der anhaltenden Chancenungleichheit in Ihrer Amtszeit als Vorsitzende noch angehen?
Oldenburg: Die wichtige Rolle der multiprofessionellen Teams. Wir haben einen enormen Lehrkräftemangel. Und wir brauchen viele verschiedene Hände an Schulen – allein wegen der steigenden Heterogenität der Schülerinnen und Schüler. Wir haben in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise sehr gute Erfahrungen mit Alltagshilfen gemacht und deren Stellen nun auf 240 verdoppelt. Gerade starten wir eine neue Ausbildung für multiprofessionelle Fachkräfte, die dann als Lehrkräfte und als unterstützende pädagogische Fachkräfte an Schulen arbeiten können. Auch das ist ein Beispiel, wie wir unsere Schulen multiprofessioneller aufstellen können.
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