: „Dann ist es eben nur ein halber Marx“
Die außenpolitischen Positionen von Karl Marx sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Timm Graßmann, der über Marx’ kritische Sicht auf das autokratische Russland und seine Begeisterung für Polen ein Buch geschrieben hat
Interview Yelizaveta Landenberger
taz: Herr Graßmann, was hatte Karl Marx gegen Moskau?
Timm Graßmann: Marx sah in der Geschichte der russischen Politik zwei Konstanten, nämlich Autokratie und eine Außenpolitik der systematischen Übergriffe, die man als imperialistisch oder expansionistisch bezeichnen könnte – Territorien erobern als Ausdruck nationaler Größe, womit immer auch die Zerstörung schon bestehender politischer Einheiten einhergeht. Ein Moment, das diese beiden Konstanten verbindet, ist, dass Russland Demokratien oder Republiken auslöscht und damit versucht, diesen Freiheitsgeist, der irgendwo außerhalb Russlands der Flasche entwichen ist, wieder da hineinzubekommen – um so zu verhindern, dass er jemals in Russland auftaucht. In einer Rede auf einem Londoner Polenkongress 1867, einer Solidaritätsveranstaltung mit dem damals geteilten Polen, sagte Marx deshalb wortwörtlich, Europa habe nur eine Wahl: Polen wiederherstellen oder Barbarei.
taz: Sie schreiben in Ihrem Buch ausführlich über Marx’ Einsatz für Polen. Wieso hat er sich so sehr für Polen interessiert?
Graßmann: Er agitierte eigentlich sein Leben lang für die Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates. Polen-Litauen als politisch eher fortgeschrittenes Land mit moderner Verfassung und einer gewissen Gewaltenteilung war ab 1772 unter drei Autokratien – Russland, Preußen und Österreich – aufgeteilt worden. Spätestens seit dem Polnischen Aufstand von 1830 herrschte in der westeuropäischen Öffentlichkeit die sogenannte Polenbegeisterung. Zu der Zeit, als Marx mit Engels das „Manifest der Kommunistischen Partei“ schrieb, nahm er erstmals an Polenkongressen teil. Spätestens nachdem die Revolution von 1848/49 scheiterte, engagierte er sich auf dem Gebiet noch stärker, weil er in Polen auch ein effektives Mittel erkannte, um Russland einzuhegen.
taz: Da bieten sich die Parallelen zur heutigen Situation natürlich an. Putin fürchtete sehr, die Orangene Revolution und später der Maidan könnten aus der Ukraine auch nach Russland kommen. Es ist erstaunlich, dass viele Linke diesen Imperialismus Russlands einerseits kleinreden und andererseits keinerlei Solidarität mit der angegriffenen Ukraine zeigen.
Graßmann: Schon zu Marx’ Zeiten konnte die Mehrheit der Sozialisten nicht einsehen, warum sie sich für die polnische Unabhängigkeit einsetzen sollte. Es ist interessant, dass Michail Bakunin, ein Zeitgenosse von Marx, nicht in Russland, sondern in Deutschland, das sich damals gerade erst vereinigt hatte, die größte Bedrohung für Europa sah. Die Deutschen vereinen „Bildung mit Barbarei“ ist so eine Phrase bei Bakunin. Deswegen dachte er, die slawischen Völker müssen gegen Deutschland zusammenhalten. Bakunin ging sogar so weit zu sagen, eigentlich könne ein Zar an der Spitze dieses panslawischen Projekts stehen, damit Polen nicht in den deutschen Orbit hineinfällt. Das ist in etwa die Position der Zeitschrift konkret heute. Die denken auch, eine Art deutsches Wesen sei das Problem, die EU daher so etwas wie das „Vierte Reich“ und Putin in der Rolle des Antifaschisten. Und wenn jemand freiwillig beim „Vierten Reich“ mitmachen will, wie die Ukrainer, können das ja nur Nazis sein.
taz: Abenteuerlich, dass man in Putin einen Antifaschisten erkennen kann.
Graßmann: Nicht wenige denken ja wirklich so: Putin hat das Kapital so halb im Griff, also ist das schon mal einen Schritt näher am Sozialismus. Aber das wäre so gar nicht Marx’ Denkweise. Sie verkennen, dass so ein Land wie die Ukraine mit der Staatsform alleine schon eine fortschrittlichere Sache ist als Russland. Bei vielen Linken heute beobachtet man eine ontologische Ablehnung „des Westens“. Aber die gibt es bei Marx nicht, weil er in der bürgerlichen Gesellschaft auch ein fortschrittliches Moment erkannte. Die Bourgeoisie hat den alten Absolutismus gebrochen.
Timm Graßmann promovierte über Marx’ Krisentheorie. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Editor der Marx-Engels-Gesamtausgabe. Sein Buch heißt: „Marx gegen Moskau. Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse“.
taz: Ist das grundlegende Problem also, dass viele Linke ihren Marx schlecht lesen?
Graßmann: „Marxistisch“ zu sein bedeutet heute bestenfalls wahrscheinlich, das „Kapital“ rauf und runter zu lesen. Marx, das ist der große Ökonom, der Theoretiker von Klasse, Krise, Kapital. Aber Marx als politischer Theoretiker wird so nicht ernst genommen – dass er zum Beispiel auch ein großer Analytiker und Gegner von autoritären Staatsformen war und Demokratie, die er politische Emanzipation nennt, verteidigte, das wird gerne ignoriert. Symptomatisch ist, dass die 140-seitige Artikelserie, die Marx dem Ursprung der russischen Autokratie widmete, absichtlich nicht in die vom sowjetischen Moskau abhängige Ausgabe der Marx-Engels-Werke (MEW) aufgenommen wurde. Aber dann ist es eben nur ein halber, ein amputierter Marx. Ich arbeite jeden Tag mit Marx-Texten und wusste schon immer, dass Russland und Polen für Marx irgendwie wichtig waren, aber auch ich konnte lange nicht richtig verstehen, was eigentlich dahintersteckt. Die russische Großinvasion vom 24. Februar 2022, die mich erschüttert hat und bis heute in Atem hält, war dahingehend augenöffnend.
taz: Wieso wird denn der politische Marx von den Marxisten ignoriert?
Graßmann: Nun, Marx steht in seiner politischen Theorie quer zu dem, was viele Linke spontan annehmen. Da kommt es zum Kurzschluss: Wir studieren das „Kapital“, also ist der Hauptfeind in der Welt die führende kapitalistische Macht, die USA. Aber man darf nicht vergessen, dass es all diese reaktionären, autoritären Kräfte in der Welt gibt. Und Marx’ außenpolitisches Primat war es gewesen, gegen sie vorzugehen.
taz: Sie haben erklärt, wieso Polen so interessant für Marx war. Was schrieb er zur Ukraine?
Graßmann: Er betonte, dass Kyjiw und Moskau niemals zusammengehörten, und schrieb über die Kosaken-Republik, eine ukrainische Staatsform im 17. Jahrhundert, die demokratische Züge trug und dann von Moskau zerstört wurde. Marx sah in der Ukraine neben Polen ein weiteres Subjekt mit einer eigenständigen demokratischen Tradition. Auch für Engels stand außer Frage, dass die Ukraine eine Nation und Ukrainisch eine eigenständige Sprache waren. Er vertrat zunächst diese merkwürdige Idee der historischen und geschichtslosen Völker. Am Ende seines Lebens schrieb er dennoch, dass allein die Ukraine über ihr Los entscheiden dürfe.
taz: In Ihrem Buch gibt es ein Foto von Marx mit seiner Tochter Jenny. Sie trägt ein riesiges Kruzifix um den Hals. Das ist schon merkwürdig, Marx war ja Religionskritiker.
Graßmann: Das ist ein polnisches Insurrektionskreuz, ein Symbol der Solidarität mit der polnischen Unabhängigkeitsbewegung. Klar, Marx war kein Freund von Religion, aber im politischen Kampf konnte er durchaus pragmatisch sein und über Nebensächlichkeiten hinwegsehen. Heute hängen sich viele Linke im Westen an sekundären Sachen auf, dass die Ukraine kein perfektes Land ist – Stichwort Korruption. Doch als der französische Bonapartismus 1870 Preußen den Krieg erklärte, verhielten sich Marx und Engels in diesem vermeintlichen Großmachtkonflikt nicht neutral, sondern stellten sich zunächst auf die Seite des deutschen „Vertheidigungskriegs wider bonapartistischen Angriff“. Engels schien es unmöglich, dass die Sozialdemokratische Arbeiterpartei in einem solchen „Krieg um die nationale Existenz“ „die totale Abstention predigen und allerhand Nebenrücksichten über die Hauptrücksicht setzen“ könnte.
taz: Kann man denn wirklich Parallelen zwischen Marx’ Zeiten und heute ziehen?
Graßmann: Die analytische Schärfe, mit der Marx die Dreierkonstellation Russland-Westen-Osteuropa fasst, finde ich unübertroffen. Auch hat es in der Sowjetunion, die beileibe nicht das sozialistische Paradies auf Erden war, keinen konsequenten Bruch mit der imperialen Politik gegeben. Aber natürlich würde ich nie sagen, bei Marx findet man schon alles, was man braucht. Der geopolitische Kontext ist wegen China heute ein anderer. Man muss das aktuelle Material kritisch durcharbeiten und etwa die Geschichte des westlichen Verrats der Ukraine seit 1991 schreiben.
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