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Nach dem Raub des Caravaggio

Aus einem kleinen Kirchenbau im Zentrum von Palermo wurde vor über 50 Jahren ein Caravaggio-Gemälde gestohlen, vermutlich von der Mafia. Jährlich an Heiligabend wird an seiner Stelle ein neues Kunstwerk enthüllt. 2024 von Michelangelo Pistoletto

Von Hili Perlson

Das Oratorio di San Lorenzo ist leicht zu übersehen in Palermo. Das kleine, mittlerweile entweihte Gebetshaus eines Franziskanerkonvents liegt versteckt hinter einem ummauerten Innenhof in einer dunklen Gasse im historischen Zentrum der Stadt und wird von der viel größeren Basilica di San Francesco d’Assisi überschattet, die nur einen Steinwurf entfernt liegt. Vielleicht war das Oratorium gerade wegen seiner unzugänglichen Lage ein leichtes Ziel für einen der spektakulärsten Kunstdiebstähle des 20. Jahrhunderts.

Dreieinhalb Jahrhunderte lang, von etwa 1610 bis zu einer regnerischen Oktobernacht in den späten 1960er Jahren, beherbergte der Kirchenbau eines der wenigen Gemälde von Caravaggio auf Sizilien: „Die Geburt Christi mit den Heiligen Laurentius und Franz von Assisi“. Am 17. Oktober 1969 hatte jemand das gut drei Meter hohe und zwei Meter breite Kunstwerk vom Altar entwendet, ohne Spuren zu hinterlassen. Es wurde nie wiedergefunden. Michelangelo Merisi da Caravaggio war schon zu Lebzeiten eine Legende und hinterließ keine 200 Gemälde, als er 1610 im Alter von 38 Jahren starb, weshalb er auf dem Kunstmarkt besonders begehrt ist. Das FBI listet den aus dem Oratorio gestohlenen Caravaggio derzeit auf Platz zwei der meistgesuchten Kunstwerke weltweit, gleich hinter den 7.000 bis 10.000 Artefakten aus archäologischen Sammlungen im Irak, die im März 2003 beim Einmarsch der US-Truppen in Bagdad und dem Sturz Saddam Husseins geplündert wurden.

Mehr als fünfzig Jahre nach seinem Diebstahl sind der Verbleib und der Zustand des Caravaggio noch immer ein Rätsel, auch wenn man annimmt, dass die sizilianische Cosa Nostra in den Fall verwickelt ist. Unzählige widersprüchliche Aussagen von Mafia-Informanten wurden im Laufe der Jahre gesammelt: Manche sagten aus, das Gemälde sei in Scheiben geschnitten und an Schweine verfüttert oder als Fußmatte verwendet worden. Andere behaupteten, die Diebe hätten das Bild zunächst aus dem Rahmen geschnitten und dann zusammengerollt, um es aus der Kirche zu entfernen. Auch das ist wenig plausibel. Ein Gemälde aufzurollen, das jahrhundertelang in seinem Rahmen hing, bedeutete, dass die Ölfarbe Risse bekommt, das Meisterwerk würde stark beschädigt.

2017 tauchte zum ersten Mal der Name des Mafiabosses Gaetano Badalamenti in Zusammenhang mit dem Raub auf. Ein Zeuge sagte aus, Badalamenti habe das Gemälde an einen Schweizer Kunsthändler, vermutlich aus Lugano, verkauft. Dass Badalamenti bei dem Caravaggio-Diebstahl eine Rolle spielen könnte, bestätigte auch Monsignore Benedetto Rocco, der Kustos des Oratorio di San Lorenzo, in den vielen Radio- und Zeitungsinterviews, die er Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre gab. Badalamentis Leute hätten den Monsignore kontaktiert, um ein Lösegeld von etwa einer Milliarde italienischer Lira (heutiger Wert etwa 5,2 Millionen Euro) zu fordern. Die Verhandlungen mit der Cosa Nostra seien aber aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft des damaligen Superintendenten für Kultur auf Sizilien gescheitert. Der habe den Monsignore beschuldigt, kriminelle Geschäfte mit der Mafia zu machen.

Heute kann man im Oratorium eine Hightech-Fotonachbildung von Caravaggios „Geburt Christi“ sehen, die in dem leeren Originalrahmen installiert ist. Seit 2015 gibt sie dem prächtigen Innenraum des Oratoriums seine Integrität zurück. Dieser wurde von dem barocken Bildhauer Giacomo Serpota etwa 100 Jahre nach der Fertigstellung des Caravaggio geschaffen, um das Meisterwerk in einem angemesseneren Rahmen zu präsentieren, der ursprüngliche Innenraum der Kirche war dafür zu bescheiden gewesen. Mit aufwändigen Stuckarbeiten umgab Serpota die Geburtsszene von Caravaggio mit allegorischen Statuen, darunter die der Gastfreundschaft und der Nächstenliebe. Den gesamten Innenraum schmückte er mit Putten, die verschiedenen Tä­tigkeiten nachgehen. Dass in jener Oktobernacht neben dem Caravaggio auch einige dieser kunstvollen Stuckarbeiten gestohlen wurden, ist weniger bekannt.

Die meiste Zeit des Jahres muss die Fotoreplik jedoch einem zeitgenössischen Kunstwerk weichen. In den nächsten Monaten etwa für eines des 91-jährigen Michelangelo Pistoletto. Pistoletto, eine Schlüsselfigur der italienischen Arte-Povera-Bewegung der Nachkriegszeit, ist seit 2018 auch Ehrenbürger von Palermo. Der Präsident der Amici dei Musei Siciliani, des sizilianischen Museumsfördervereins, Bernardo Tortorici di Raffadali, lädt seit 2010 jedes Jahr einen anderen zeitgenössischen Künstler ein, ein Werk anstelle des gestohlenen Caravaggio anzufertigen. Zahlreiche renommierte Künst­le­r:in­nen haben mittlerweile an der Initiative mit dem Namen NEXT teilgenommen, darunter Francesco De Grandi, Francesco Simeti, Emilio Isgrò und Vanessa Beecroft. Ihnen stellt di Raffadali quasi einen Freibrief aus, mit einer Einschränkung: Die Originalmaße des Caravaggios sollten beachtet werden, das zeitgenössische Kunstwerk sollte auch in den Rahmen über dem Altar passen können.

An Heiligabend, nach der Mitternachtsmesse, wird nun Pistoletto sein neues Kunstwerk enthüllen. Ein Moment, der in den letzten 15 Jahren schon zu einem Ritual der Besinnung und Hoffnung durch Kunst geworden ist. Eine spürbare emotionale Spannung liegt dann immer in der Luft, wenn die vielen Palermitaner, die sich zuvor vor dem Kirchengebäude versammeln, gemeinsam das abgedunkelte Oratorium betreten und nur ein einzelner Scheinwerfer das neue Kunstwerk über dem Altar anstrahlt. Die stille Aufregung wird dann nur allmählich durch Gespräche ersetzt, wenn den Gästen Prosecco und Pandoro angeboten wird.

2017 fiel der Name des Mafiabosses Gaetano Badalamenti. Er wird der Tat dringend verdächtigt

Der eigens angefertigte Pistoletto wird bis zum 17. Oktober 2025 zu sehen sein, bis zu dem Tag, an dem der Diebstahl dann 56 Jahre zurückliegt. Pistolettos Neuinterpretation des Caravaggio-Gemäldes, so viel hatte der Künstler vorab der taz verraten, wird seine ikonische Spiegelmalerei aufgreifen. Auf einer großen spiegelnden Fläche soll eine Kopie des Engels aus dem originalen Gemälde angebracht werden. Die Schriftrolle, die ihm Caravaggio gegeben hatte, wird von Pistoletto dann durch sein Symbol des „Dritten Paradieses“ ersetzt. Es handelt sich dabei um eine Abwandlung des mathematischen Unendlichkeitszeichens, die Pistoletto vor vielen Jahren zum zentralen Motiv seines Werks gemacht hat. Das „Dritte Paradies“ soll den Ausgleich zwischen entgegengesetzten Kräften suchen: „Indem er einen Teil des alten Gemäldes bewahrt, bringt der vom Himmel herabsteigende Engel die Verkündigung des Dritten Paradieses als Symbol eines möglichen Gleichgewichts zwischen Natur und Kunstwerk“, erklärt Pistoletto der taz. „Man kann Religion und Politik, Natur und Kunstfertigkeit, das Monster und die Tugend miteinander verbinden. Hier wird etwas geboren, das es vorher nicht gab.“ Pistolettos Spiegel interagiert mit Serpottas barockem Interieur, das gesamte Oratorium wird in das Werk über dem Altar einbezogen werden.

Bernardo Tortorici di Raffadali fügt hinzu: „Dass so eine renommierte Persönlichkeit wie Michelangelo Pistoletto teilnimmt, unterstreicht, wie schwer der Diebstahl des Caravaggio als Verbrechen gegen die Kunst noch immer wiegt. Und es ist auch eine starke Geste der Solidarität.“

Das Organisierte Verbrechen auf Sizilien konzentriert sich mittlerweile auf lukrativere Geschäfte. Die tiefen Narben, die die Cosa Nostra mit ihren Gewalttaten im Centro Storico von Palermo hinterlassen hat, sind immer weniger sichtbar. Doch dass die Stadt ihren einzigen Caravaggio verloren hat, bleibt eine offene Wunde. Wie eine Reliquie hängt in einem kleinen Raum hinter dem Altar noch der Keilrahmen, aus dem das Ölgemälde vor 56 Jahren mit einer Rasierklinge herausgeschnitten wurde. Dieses Warten auf die Rückkehr des Caravaggio für einen Moment auszusetzen durch ein neues Kunstwerk, das hat in Palermo schon eine regenerierende Bedeutung erlangt.

Aus dem Englischen

von Sophie Jung

Hili Perlson ist Kunstjournalistin, Kritikerin und Dozentin. Sie lebt in Berlin und auf Sizilien

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