: Der Fluss der Rede
Der Strom des Bewusstseins und die Emotionen, die in der eigenen Stimme schwingen, prägten die Hörspiele der Wiener Schriftstellerin Friederike Mayröcker. Ihre Arbeiten fürs Radio waren ihren Texten immer ein Stück voraus
Von Thomas Combrink
Friederike Mayröcker verdankt dem Rundfunk viel. 1969 bekam sie für die akustische Inszenierung „Fünf Mann Menschen“ mit Ernst Jandl den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Oscar der deutschen Hörspielwelt. Durch diese Auszeichnung und die darauf folgenden Aufträge konnte sie ihren Beruf als Lehrerin für Englisch an Sekundarschulen aufgeben und fortan als freie Schriftstellerin leben. Mayröcker würde am 20. Dezember ihren 100. Geburtstag feiern, am 4. Juni 2021 ist sie gestorben.
Es waren vor allem die Sender in der Bundesrepublik, mit denen die Schriftstellerin aus Wien ihre Hörspiele realisieren konnte. Der deutsche Rundfunk bemühte sich in den Nachtprogrammen auch um die experimentellen Formen der Radiokunst, gleichzeitig waren die Honorare verglichen mit den Bezügen in Österreich deutlich höher. Friederike Mayröcker prägte so das „Neue Hörspiel“ mit – das 1968 auf Grundlage der Möglichkeiten der Stereophonie und vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung entstand.
1968 sendete der SWF in Baden-Baden das Hörspiel „Fünf Mann Menschen“, das sich die damals relativ neue Technologie der Stereophonie zunutze machte. Die Stimmen der Personen konnten sich nun auch durch ihre unterschiedlichen Positionen im Raum voneinander abgrenzen.
Ernst Jandl und Mayröcker zeichnen in diesem kurzen Hörspiel exemplarische Lebenswege nach. Die Autoren karikieren und kritisieren die gesellschaftlichen Erwartungen, die an die Subjekte herangetragen werden. „Fünf Mann Menschen“ ist ein politisches Tondokument, dessen Entstehung mit der literarischen und historischen Situation der sechziger Jahre zusammenhängt. Mayröcker realisiert mit Jandl drei weitere Hörspiele, die 1969 und 1970 ausgestrahlt wurden: „Der Gigant“, „Spaltungen“ und „Gemeinsame Kindheit“. Diese Arbeiten sind stärker von der Sprache und der Methodik des österreichischen Lyrikers geprägt.
Ihren eigenen Weg geht Mayröcker erstmals mit dem Hörspiel „Arie auf tönernen Füszen“, das 1970 im WDR gesendet wird. Auch hier spielt die Stereophonie eine wichtige Rolle. Drei Stimmen sind wahrzunehmen, die zu einer Frau gehören. Sie wird von Gisela Stein gesprochen. Manchmal erklingen die Stimmen gleichzeitig, manchmal wechseln sie sich ab. Sätze, Worte und Teile von Aussagen bilden eine Montage, aber keine Handlung. Auch dieses Hörspiel ist mit 25 Minuten recht kurz. Das Prinzip der „Zersplitterung“, das sich in „Arie auf tönernen Füszen“ zeigt, entspricht bis in die Mitte der siebziger Jahre der Arbeitsweise von Friederike Mayröcker in Lyrik und Prosa. In der Regieanweisung von „Bocca della Verità, ein Assoziationshörspiel“, das 1977 im ORF gesendet wird, heißt es über die „Stimmung“ der akustischen Inszenierung: „allgemein sanft-schwermütig-kontemplativ, gleichzeitig erwartungsvoll-verwirrt: gleichsam ausgesetzt dem auf ihn niederströmenden betäubenden Duft eines voll erblühten Robinienbaumes in einer warmen Juninacht“.
Handlungsansätze wechseln sich ab mit poetischen Formulierungen. Nachvollziehbare Erfahrungen werden unterbrochen von lyrischen Einschüben, von Bildern, Metaphern und Vergleichen. Die Stimmung des Hörspiels beschreibt Mayröcker als „sanft-schwermütig-kontemplativ“, weil der Fortlauf des Geschehens sich über semantische Felder und klangliche Bedeutungshöfe ergibt. Der Fluss der Rede ähnelt der Musik von John Cage, die in ihren meditativen Momenten anregend und beruhigend zugleich wirkt. Der Ausdruck „kontemplativ“ bezieht sich auf den gleichmäßigen Rhythmus, bei dem auf inhaltliche Spannungsbögen, die das Stück strukturieren könnten, verzichtet wird.
Große Bedeutung hatte für Friederike Mayröcker die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Klaus Schöning, der vor allem für den WDR ihre Hörspiele realisierte. Schöning leitete einige Jahrzehnte lang die von ihm gegründete Redaktion des Studios Akustische Kunst im WDR und wurde durch seine Zusammenarbeit mit John Cage bekannt. In seiner Zusammenarbeit mit Mayröcker konzentrierte er sich auf die Texte der Autorin, bei denen Künstlerfiguren im Mittelpunkt stehen. Gleich drei Stücke – „Der Tod und das Mädchen“ von 1977 (das von Friedhelm Ortmann umgesetzt wurde), „Franz Schubert oder Wetter-Zettelchen Wien“ von 1978 und „Schubertnotizen oder Das unbestechliche Muster der Ekstase“ von 1994 – widmen sich dem österreichischen Komponisten Schubert. Das Haus in der Kettenbrückengasse in Wien, in dem er 1828 verstarb, liegt in der Nähe von Mayröckers ehemaliger Wohnung in der Zentagasse. Vermutlich hat die enge räumliche Beziehung auch zu der Beschäftigung mit dem Musiker geführt.
Klaus Schöning betreute auch die Hörspiele von Friederike Mayröcker, in denen bildende Künstler im Zentrum standen. Im Jahr 1986 wird im WDR der Beitrag „Die Umarmung, nach Picasso“ gesendet, 1989 läuft das Stück „Repetitionen, nach Max Ernst“. In dem Hörspiel „Das Couvert der Vögel“, das 2001 veröffentlicht wird, geht es um den Maler Henri Matisse, dessen Rolle von Gerhard Rühm gesprochen wird, der auch für die Musik verantwortlich ist.
Diese akustische Inszenierung von Friederike Mayröcker wurde mit dem Karl-Sczuka-Preis ausgezeichnet. Klaus Ramm erläuterte in seiner Laudatio, dass die Schriftstellerin „auf die avancierten artikulatorischen Errungenschaften der Lautdichtung etwa oder auf die radiophon-materialen Klangverfahren der ars acustica“ verzichte. Das Hörspiel gewinne seine Bedeutung allein durch die dichterische Qualität des Textes, „ausschließlich durch die Intensivierung des literarischen, des poetischen Sprechens, ohne es akustisch auffällig aufzuladen, ohne es betont nach lautlichen Prinzipien zu generieren“.
In einem Interview mit Monika Pauler erklärte Mayröcker dazu: „Im Grunde unterscheiden sich die Hörspiele nicht sehr viel von meiner Prosa, besonders die jüngsten Hörspiele sind eigentlich nichts anderes als Prosatexte, also fortlaufende Prosatexte.“
In der Tat handelt es sich bei ihren akustischen Arbeiten oft um Passagen, die ihren Büchern entnommen wurden. Der Text des Hörspiels „Gertrude Stein hat die Luft gemalt“ etwa, das 2005 gesendet wurde, basiert auf Ausschnitten aus dem Band „Und ich schüttelte einen Liebling“, der im selben Jahr veröffentlicht wurde. Verblüffend jedoch sind die Eingriffe in den Text, die Mayröcker nun in der akustischen Fassung vornimmt. Hatte sie im Buch noch zwischen eigener Erfahrung und Erlebnissen von Gertrude Stein getrennt, überschneidet sich im Hörspiel der autobiografische Hintergrund mit den Ereignissen im Dasein der amerikanischen Schriftstellerin. Neben Musikern und bildenden Künstler kommen im akustischen Werk der Autorin also auch Dichter zu Wort. Klaus Schöning führt diese Reihe mit der Sendung „Kabinett Notizen – nach James Joyce“ fort, die 2008 ausgestrahlt wird.
Wenn Mayröcker ihre Hörspiele als „fortlaufende Prosatexte“ bezeichnet, dann bezieht sie sich auf die Dramaturgie des Augenblicks. Die Sätze resultieren aus der Poetik des Moments. Die Metaphern, Vergleiche und Bilder, die Selbstaussagen und fragmentarischen Erzählungen ergeben einen Zusammenhang, der nur assoziativ aufzuschlüsseln ist. Die Hörspiele von Friederike Mayröcker beginnen unvermittelt und besitzen ein offenes Ende. Es gibt keinen zentralen Konflikt auf der Ebene der Handlung, der am Schluss auf überraschende Weise aufgelöst wird. Viel eher deutet der Ausdruck „fortlaufend“ darauf hin, dass es sich um Stimmen im Bewusstsein der Dichterin handelt.
Mayröckers Prosa ist beeinflusst vom automatischen Schreiben, der „écriture automatique“, die im Surrealismus entwickelt wurde. Am deutlichsten wird diese Technik in der akustischen Inszenierung „Gärten, Schnäbel, ein Mirakel, ein Monolog, ein Hörspiel“, bei der Klaus Schöning Regie geführt hat und die 2008 erstmals gesendet wurde. Der Strom des Bewusstseins bezieht sich hier in erster Linie auf die Lebenswelt Mayröckers. Hatte sie sich in den früheren Hörspielen vor allem in den Figuren von Pablo Picasso, Henri Matisse, Franz Schubert oder Gertrude Stein gespiegelt, so spricht sie in diesem Stück ausdrücklich von sich, von ihren Erfahrungen, ihrer Umgebung, ihrem sozialen Umfeld. Auch diese Methode des autofiktionalen Schreibens geht auf französische Vorbilder zurück, etwa die Literatur Jean Genets.
Dass Friederike Mayröcker selbst in ihren Hörspielen spricht, hängt mit der Theorie des Unbewussten zusammen, die für das automatische Schreiben im Surrealismus von Bedeutung war. Die Stimme ist durchlässig für Emotionen, welche die Perspektive verändern können auf den schriftlich fixierten Text. In diesem Sinne sind die Hörspiele von Friederike Mayröcker ihren Büchern voraus, sie ergänzen ihr literarisches Werk, eröffnen neue Möglichkeiten der Interpretation und dienen als Einführung in die Arbeiten der großen Dichterin.
Die Bücher von Friederike Mayröcker erscheinen im Suhrkamp Verlag. Herausgekommen sind soeben die „Gesammelten Gedichte 2004–2021“, Berlin 2024, 560 Seiten, 38 Euro.
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