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Toxische Männlichkeit fängt in der Kita an

Eine Studie zeigt: Bis zu 80 Prozent der schleswig-holsteinischen Kitas und Schulen haben noch kein Konzept zur Prävention geschlechtsbezogener Gewalt. Dabei werden genau dort problematische gesellschaftliche Rollenmuster weitergegeben

Von Selma Hornbacher-Schönheber

Der Schutz vor geschlechtsbezogener Gewalt in Schleswig-Holsteins Bildungseinrichtungen ist ausbaufähig. Zu diesem Ergebnis kam eine hochschulübergreifende Forschungsgruppe mit Unterstützung des Landesverbands Frauenberatung Schleswig-Holstein. Von 2021 bis 2024 haben sie Kitas und Schulen im ganzen Bundesland zu ihrer Praxis im Umgang mit geschlechtsbezogener Gewalt befragt und die Antworten ausgewertet. Konzipiert wurde die Studie im Rahmen einer Arbeitsgruppe zur Umsetzung der 2018 von Deutschland ratifizierten Istanbul-Konvention zur Bekämpfung geschlechtsbezogener Gewalt.

Die Istanbul-Konvention weist Bildungseinrichtungen eine besondere Rolle in der Gewaltprävention zu. Diese müssen Kinder nicht nur vor geschlechtsbezogener Gewalt wie sexuellen Übergriffen schützen. Kitas und Schulen sind auch wichtige Orte der Aufklärung und Prävention. Hier sollen Kinder lernen, Gewalt zu erkennen und keinesfalls anzuwenden oder zu tolerieren.

Die Studie zeigt, dass die Prävention geschlechtsbezogener Gewalt verbessert werden muss. 80 Prozent der Schulen und 70 Prozent der Kitas gaben an, kein Präventionskonzept zu haben, das der Definition der Studie entspricht. Ein Problem ergibt sich mit Blick auf Mehrfachdiskriminierungen. Anders als die Istanbul Konvention es vorsehe, gerate oft die besondere Verletzlichkeit von mehrfach diskriminierten Personen aus dem Blick, erklärt Christiane Micus-Loos, die die Studie mitkonzipiert hat.

Aus der Befragung geht hervor, dass 76 Prozent der Kindertagesstätten und 67 Prozent der Schulen noch keine ersten Ansätze zur Berücksichtigung von Mehrfachdiskriminierung haben. Dabei seien Personen, die von Rassismus, Armut, Behinderten- oder Queerfeindlichkeit betroffen sind, auch geschlechtsbezogener Gewalt besonders oft ausgesetzt. Außerdem sei für sie die Hemmschwelle höher, sich innerhalb diskriminierender Strukturen Hilfe zu holen, erklärt Micus-Loos.

In Bildungseinrichtungen müsse man deshalb auf drei Ebenen ansetzen: Struktur, Identität und Repräsentation. Nur individuell Schü­le­r*in­nen zu ermächtigen und aufzuklären, greife zu kurz: Man müsse geschlechtsbezogene Gewalt als gesellschaftliches Problem auffassen und einer Individualitätslogik entgegenwirken. Mit Arbeitsmaterialien und Schulbüchern könnten etwa gesellschaftliche Vielfalt und Geschlechterrollen und -identitäten jenseits der heterosexuellen Norm repräsentiert werden, um etwa dominante Männlichkeitsnormen zu hinterfragen.

Dass es für die Prävention geschlechtsbezogener Gewalt eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen braucht, davon ist die Sprecherin der Forschungsgruppe, Melanie Groß, überzeugt. Solche Geschlechterrollen erlernten Kinder besonders im Kita-Alter. „In Kitas wird das wiederholt“, erklärt Groß, „was in der Gesellschaft an Rollenmustern vermittelt wird.“ Und von solchen Rollenbildern sind weder Kinder noch die Päd­ago­g*in­nen frei: Das Verhalten von Mädchen und Jungen werde oft unterschiedlich bewertet – etwa, wenn Mädchen vermittelt wird, ein Junge sei heimlich verliebt in sie, wenn er sie ärgert. „Solche Muster“, da ist Groß sicher, „spielen später in Gewaltdynamiken besonders in heterosexuellen Beziehungen eine große Rolle.“

In Kitas und Schulen wird das Verhalten von Mädchen und Jungen immer noch unterschiedlich bewertet

Auch mit Blick auf Schutzkonzepte zum Umgang mit geschlechtsbezogener Gewalt ist die Situation in Schleswig-Holstein ausbaufähig. Mit 82 Prozent konnte die überwältigende Mehrheit der Schulen kein solches Konzept vorweisen. Auch 68 Prozent der Kitas gaben an, für geschlechtsbezogene Gewalt keine Verfahren zu haben, wobei aber bereits 78 Prozent der Kitas Verfahrensregeln zum Umgang mit Gewalt und Übergriffigkeit von Kindern beschlossen haben. Wie gut die Strukturen von Kita und Schule die Kinder schützen, hängt also am Ende an einzelnen Fach- und Lehrkräften. Dabei sei es eigentlich gerade wichtig, dass es klar geregelte Beschwerdemöglichkeiten und transparente Verfahrensregelungen gebe, betont Micus-Loos.

Die Forschungsgruppe schlägt deshalb vor, Ressourcen wie Leitfäden extern auszuarbeiten und bereitzustellen. „Eine koordinierende Stelle – das wäre wirklich hilfreich!“, erklärt Melanie Groß. Damit würden Bildungseinrichtungen entlastet und Expertise gebündelt. Außerdem brauche man einen Ausbau von Infrastruktur, Vernetzung, Beratungs- und Unterstützungsangeboten, ergänzt Christiane Micus-Loos. „Und natürlich Fort- und Weiterbildung für die Lehrkräfte.“

Verbesserungsbedarf sehen auch die Befragten. „Es ist schwer, diese Fragen ruhigen Gewissens zu beantworten“, meldet eine Schule zurück. Aber die Schule sei jetzt schon personell, materiell und zeitlich überlastet. Ähnliche Rückmeldungen kommen aus Kitas. Zur Unterstützung der Bildungseinrichtungen brauche man deshalb mehr Ressourcen aus Landesmitteln, erklärt Christiane Micus-Loos.

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