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afrobeatZeit, über Mayotte zu reden

Der Tropensturm „Chido“ hat im Indischen Ozean nicht nur die französische Insel Mayotte verwüstet. Er lenkt auch den Blick auf Frankreichs Kolonialismus

Seinen neuesten Trump-Moment hatte Emmanuel Macron mitten in der Nacht. Nach der Landung auf der von einem Wirbelsturm verwüsteten Tropeninsel Mayotte im Indischen Ozean traf der französische Präsident am späten Donnerstagabend auf entnervte Sturmopfer, und die Diskussion vor laufender Kamera wurde offenbar etwas hitzig. „Ihr seid glücklich, in Frankreich zu sein!“, schreit Macron auf den weltweit verbreiteten Aufnahmen schließlich die ihn umringenden afrikanischen Zuhörerinnen an. „Wenn dies nicht Frankreich wäre, befändet ihr euch zehntausendmal mehr in der Scheiße!“

Da war er wieder, der koloniale Ton, mit dem sich Frankreich im Allgemeinen und Macron im Besonderen immer wieder in Afrika unmöglich macht. Welten entfernt erscheint der Macron, der vor seinem ersten Wahlsieg 2017 den französischen Kolonialismus in Afrika ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nannte. Heute regiert Macron von Gnaden der extremen Rechten und vertritt deren Haltung, wonach der Kolonialismus eigentlich für Afrika gut war und ist. Das böse Bonmot seines Vorgängers François Hollande, Macron sei ein Mann mit „aufeinanderfolgenden Überzeugungen“, findet hier seine Illustration.

Denn wenn es selbstverständlich wäre, dass Mayotte „in Frankreich ist“, müsste Frankreichs Präsident das nicht in die Nacht hinausbrüllen. Mayotte gehört aber nur deswegen zu Frankreich, weil Frankreich internationales Recht brach, als es sein Kolonialgebiet der Komoren 1975 in die Unabhängigkeit entließ. Das vorhergegangene Referendum im Jahr 1974 war mit knapp 95 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit ausgegangen – aber die Kololonialmacht hatte nicht „die Bevölkerung“ der Komoren abstimmen lassen, sondern „die Bevölkerungen“, also jede der vier Hauptinseln getrennt: Grande Comore, Anjouan, Mayotte, Mohéli. Auf Mayotte sprach sich eine knappe Mehrheit für den Verbleib bei Frankreich aus. Die Komoren erklärten 1975 die Unabhängigkeit ihres gesamten Staatsgebietes, Frankreich behielt aber Mayotte ein und ließ das 1976 durch eine zweite Volksabstimmung bestätigen.

Die Komoren erkennen das nicht an. Die UN-Vollversammlung hat Frankreichs Abtrennung Mayottes regelmäßig verurteilt. Aber vor Ort hat sich daran nichts geändert. Im Gegenteil: Je mehr die unabhängigen Komoren in die Instabilität abdrifteten – mit aktiver Mithilfe aus Frankreich, etwa durch Putschaktivitäten des französischen „Söldnerkönigs“ Bob Denard –, desto enger band Paris „seine“ Insel an sich. Erst kam die Visumpflicht für Komorer, zuletzt wurde Mayotte 2011 nach Frankreich als vollwertiges „Departement“ eingegliedert. Theoretisch bedeutet das für die Bevölkerung, die fast komplett unter der französischen Armutsgrenze lebt, die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse inklusive Sozialleistungen nach französischem Standard. Praktisch bleibt das eine Fiktion, aber diese Fiktion lockt komorische und afrikanische Zuwanderer an, denn Frankreich liegt ja jetzt direkt vor der Haustür.

Dominic Johnson

ist seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.

In Reaktion wird Frankreich gegenüber Zuwanderung immer repressiver. Mehrere zehntausend Menschen – die Regierung der Komoren spricht von 50.000 – sind auf den Booten, die Migranten illegal von den Komoren über 70 Kilometer gefährliche Meeresstrecke nach Mayotte bringen, ertrunken. Das ist ein krasser Weltrekord: die gesamten Komoren hatten bei der Unabhängigkeit keine 300.000 Einwohner, heute immer noch unter einer Million.

Inzwischen betreibt Paris die komplette Abschottung. Mayotte ist in Frankreich zum Experimentierfeld für eine Politik der extremen Rechten geworden. Alle Entscheidungen kommen aus dem fernen Paris; legale „Mahorais“ und illegale Komorer stehen sich in Dauerkonfrontation gegenüber, Mayottes halbe Bevölkerung ist wesentlicher Rechte beraubt. Bevor der Wirbelsturm die meisten Häuser zerstörte, machte die Staatsmacht die informellen Slums, in denen die „illegale“ Hälfte der Bevölkerung lebt, regelmäßig platt. Und nun kommt Macron und sagt, ohne Frankreich wäre alles zehntausendmal schlimmer.

Warum hat Frankreich Mayotte so hartnäckig behalten? Das Gebiet besteht aus einer großen und einer kleinen Insel, „Grande Île“ und „Petite Île“, plus ein paar Korallenriffen. Von der Fläche her ist es kleiner als Berlin und zählte 1975 nur ein paar zehntausend Einwohner, auch heute nur gut 320.000. Aber auf der „Petite Île“ befindet sich die wichtigste Abhörstation des französischen Auslandsgeheimdienstes im Indischen Ozean, 1998 in Zusammenarbeit mit dem BND erweitert und von 300 Fremdenlegionären geschützt, um den gesamten elektronischen Datenverkehr im südlichen Afrika und Teilen des Nahen Ostens abschöpfen zu können. Zusammen mit weiteren widerrechtlich von Frankreich einbehaltenen Inseln rund um Madagaskar und entfernteren Inselgebieten sichert Mayotte außerdem Frankreich im Indischen Ozean ausgedehnte maritime „ausschließliche Wirtschaftszonen“.

Mayotte ist ein wesentlicher Bestandteil des französischen Empire, wie auch die Pazifikinseln von Neukaledonien bis Tahiti, Teile der Karibik und als größtes Gebiet die Südamerika-Kolonie Französisch-Guyana. Frankreich bezeichnet sich gern als „Indo-Pazifik-Nation“ und nennt Brasilien einen „Nachbarn“ – lauter geografische Absurditäten, die aber die Grundlage für Frankreichs fortdauernden, in Europa heute einzigartigen Weltmachtanspruch darstellen.

Wäre es selbstverständlich, dass Mayotte „in Frankreich ist“, müsste Macron das nicht in die Nacht hinausbrüllen

Auf internationaler Ebene spricht Frankreich darüber nicht und auf europäischer Ebene wird darüber nicht gesprochen. Aber es ist Zeit, darüber zu reden. Denn solange Macron auf Mayotte herumpöbeln kann wie ein Sonnenkönig, der seinen Untertanen mangelnde Dankbarkeit vorwirft, bleibt der europäische Kolonialismus in Afrika real. Und solange er besteht, wird Europa Afrika nicht auf Augenhöhe begegnen können.

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