: „Das sind unsere blinden Flecken“
Sich in Spanien von ansozialisierten deutschen Zwängen befreien – das geht. Zugleich haben die Verwicklungen zwischen Nazideutschland und Franco noch immer Auswirkungen in den Familien. Verena Boos über ihren neuen Roman „Die Taucherin“
Interview Isabella Caldart
Die doppelte Geschichte liegt bereits im Namen: Faller ist ein weit verbreiteter Schwarzwälder Familienname, bekannt nicht zuletzt durch die Fernsehfamilie des SWR. Gleichzeitig beschreibt der Begriff faller auch die Personen, die an den Fallas teilnehmen, dem zweitgrößten spanischen Volksfest, das jeden März in Valencia gefeiert wird. In diesem Spannungsfeld siedelt Verena Boos, die selbst aus dem Schwarzwald stammt und lange in Valencia lebte, ihren dritten Roman, „Die Taucherin“, an. Erneut beschäftigt sich die Autorin mit einem wenig beleuchteten Thema: den Verstrickungen von Nazideutschland und der Franco-Diktatur und dessen Auswirkungen auf die Privatleben der Menschen.
taz: Bereits in Ihrem ersten Roman „Blutorangen“ von 2015 sind Sie in die Abgründe der deutsch-spanischen Beziehungen getaucht, jetzt widmen Sie sich dem Thema erneut. Warum?
Verena Boos: Nach meinen Recherchen für „Blutorangen“ hatte ich noch unglaublich viel Stoff übrig. Motiviert hat das Buch zudem das Wiedererstarken faschistischer Tendenzen in Europa und die Tatsache, dass immer weniger Wissen um Geschichte vorhanden ist. Es gibt Nischen der deutschen Geschichte, die in Spanien bekannter sind als in Deutschland – zum Beispiel, dass deutsche Nazis in Dénia lebten.
taz: Der rote Faden Ihres Romans ist allerdings ein Kriminalfall: Amalia reist aus dem Schwarzwald nach Valencia, weil ihre langjährige Freundin Marina verschwunden ist.
Boos: Ich wollte gerne über Frauen in diesem Alter, Mitte bis Ende 40, schreiben, darüber, wie wir ohne Kinder leben und Wahlfamilien pflegen, wie wir uns – gerade auch körperlich – durch die Welt bewegen. „Die Taucherin“ ist nicht autobiografisch, aber natürlich ist Amalia eine Art Alter Ego für mich: Sie ist im selben Alter, hat an denselben Orten gelebt, eine ähnliche Bildungsbiografie.
taz: Wie kommt da das deutsch-spanische Verhältnis in die Handlung?
Boos: Auf ihrer Suche nach Marina kommt Amalia in Valencia einem Familiengeheimnis auf die Spur, das zugleich zu weitreichenderen historischen Verbrechen führt. In „Die Taucherin“ betrifft das Spanien, aber es gilt für den Faschismus in vielen Ländern und Machtsysteme wie die katholische Kirche.
taz: Neben diesem historischen Verbrechen erfährt man in „Die Taucherin“ auch sehr viel über die aktuellere Geschichte und das Stadtgefüge Valencias.
Boos: Ich wollte mit dem Roman gerne Pfade durch die Stadt zeigen, aber Valencia eben nicht als Hochglanz-Tourispot erzählen, sondern das Cabanyal als zweites Herz von Valencia zeigen. Das Cabanyal entstand als Fischerdorf direkt an der Küste, war lange ein verarmtes Quartier, bietet aber wunderschöne Jugendstilarchitektur. Als das Viertel für eine große Straßenschneise teilweise abgerissen werden sollte, begann ein Kampf um seinen Erhalt.
taz: Im Jahr 1997 entschied die rechte Partei Partido Popular, einen Großteil von El Cabanyal abzureißen. Anwohner*innen und Denkmalschützer*innen demonstrierten massiv gegen diesen Beschluss. In Ihrem Roman wird dieser langjährige Kampf anhand von Marina, die selbst im Viertel lebt, und dem von ihr entfremdeten Bruder erzählt, der für die Stadterneuerung ist.
Boos: In den zwei Jahren, die ich in Valencia gelebt habe, habe ich diese Auseinandersetzungen mitbekommen. Die damalige Bürgermeisterin Rita Barberá [von 1991 bis 2015, Anm. d. Red.] ist mit ihren brachialen Plänen gescheitert. Die Stadt ist voller Kontraste zwischen dem Cabanyal mit seinen eher einfachen Leuten am Meer, das sich seit zwei Jahrzehnten gentrifiziert und inzwischen als hip gilt, und der stärker von der Bourgeoisie, der Kirche, dem Handel geprägten Kernstadt. Anhand dieser Kontraste lässt sich gesellschaftlich und historisch viel erzählen.
taz: Auf der persönlichen Ebene wird in vielen Rückblenden Amalias und Marinas Freundschaft geschildert. Marina ist nicht frei von politischen Widersprüchen; Amalia denkt über ihre emanzipierte Freundin nach, die sich von den franquistischen Sitten der Familie gelöst hat und trotzdem die spanisch-traditionellen Fallas feiert und damit ein konservatives Frauenbild.
Boos: Das sind blinde Flecken, die wir alle haben. Man hat einen hehren Anspruch an sich selbst, aber macht dann doch bestimmte Bräuche mit, obwohl sie, wenn man rational darüber nachdenkt, nicht gänzlich zu einem passen. Als Rottweilerin kenne ich diese Diskrepanz zwischen intellektuellem Anspruch und emotionaler Verbundenheit bei der Fastnacht statt den Fallas. Amalia wie Marina suchen nach Zugehörigkeit, weil sie sich in ihrer Familie fehl am Platz fühlen und trotzdem nach Akzeptanz streben. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Herkunft, die von Sehnsucht und Ablehnung zugleich geprägt ist.
Verena Boos wurde 1977 in Rottweil geboren. „Die Taucherin“ erscheint im Kanon Verlag, Berlin 2024, 288 S., 24 Euro.
taz: Sobald Amalia in Valencia landet, wird sie wie eine andere Person, „keine komplette Verwandlung, eher eine Verschiebung“, wie sie es beschreibt, weil sie mehr lacht, lauter spricht, geselliger ist. Was verändert sich, wenn man die Sprache ändert?
Boos: Ich empfinde das als eine große Unbeschwertheit. Das hat nicht nur mit Spanien zu tun, ich habe auch länger in Italien und Großbritannien gelebt. Man kann sich von ein paar Zwängen, die ansozialisiert wurden, befreien. Das Leben meiner spanischen Freunde ist in vielerlei Hinsicht beschwerlicher als meines in Deutschland, ich wollte das nicht komplett eintauschen. Aber es gibt diese Verschiebung. In mehreren Kulturen beheimatet zu sein, ist ein Privileg.
taz: Zum Abschluss eine Frage, die sich Ihre Protagonistin Amalia selbst stellt: „Was erinnern wir? Warum? Und welche Erlebnisse pflanzen uns die entscheidenden Erinnerungen ein?“
Boos: Es geht mir darum, wie innerhalb von Familien Geschichten erzählt werden und auch von wem, wie sich dadurch bestimmte Mythen etablieren und wer die Hoheit über die Geschichten hat. Wie im Erzählen das, was nicht zutage treten soll, verschleiert und verborgen werden kann. Mit eingebaut ist auch, dass Amalia keine zuverlässige Erzählerin ist. Es geht schon damit los, dass jeder von uns Situationen durch die eigenen Augen ganz unterschiedlich wahrnimmt. Erinnerungen verschieben sich mit jedem Wiedererzählen, bis sich nicht mehr überprüfen lässt, was „die Wahrheit“ jemals war. Erinnerungen verändern sich, und somit auch die Geschichte selbst.
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