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MeinVormieterMax Anschel,ermordet1944im KZ

Durch einen Interneteintrag erfährt unser Autor, dass in seinem heutigen Wohnhaus einst ein Berliner Jude lebte, der von den Nazis ermordet wurde. Und von Nachbarn denunziert. Die Geschichte einer Recherche, die nahegeht

Aus Berlin Gereon Asmuth

Diese Geschichte beginnt mit einem Text. Ende Februar 2023 berichtete Sabine Seifert in der taz über Menschen, die sich in Berlin auf die Spuren einer jüdischen Familie begeben haben, die einst in dem Haus wohnten, in dem sie heute leben. Und sie erwähnt dabei auch das noch recht neue Internetprojekt „Mapping the Lives“, in dem die einstigen Wohnorte von Verfolgten des Nazi-Regimes auf einem Stadtplan eingetragen sind.

Noch am selben Abend schaue ich mir die Seite im Netz an – prüfe meine eigene Adresse. Und plötzlich stehen fünf Namen vor meinen Augen. Fünf Menschen, die einst dort lebten, wo ich jetzt zu Hause bin.

Max Anschel. Seine Frau Anna. Ihre Tochter Ruth. Dazu Heinz Hans Geissler und Erwin Thiel.

Seit über 25 Jahren schon wohne ich in einem alten Mietshaus an der Elisabethkirchstraße in Berlin-Mitte. Stolpersteine, die an einstige jüdische An­woh­ne­r:in­nen erinnern, liegen vor vielen Häusern im Kiez. Bei uns aber nicht. Schon lange hatte ich vermutet, dass auch in „meinem“ Haus Verfolgte gewohnt haben müssen. Dank Mapping the Lives kenne ich nun die Namen.

In einer Schnellrecherche im Netz finde ich nichts zu Heinz Hans Geiss­ler und Erwin Thiel. Zur Familie Anschel finde ich dafür umso mehr. Und so wird mir klar: ich habe eine Aufgabe. Sie vor dem Vergessen zu retten.

Max Anschel wurde am 28. 4. 1888 in Schermbeck am Niederrhein geboren. Alle seine vier Großeltern waren Juden, das geht aus den Nazi-Akten hervor, die Mapping the Lives verarbeitet hat. Seine Frau Anna kam am 10. Januar 1901 in Berlin zur Welt, die gemeinsame Tochter Ruth am 5. Januar 1931. Anna Anschel hatte keine jüdischen Großeltern. „Verfolgungsgrund: kollektiv“ heißt es auf „Mapping the Lives“. Sie wurde also bedrängt, weil sie mit einem Juden verheiratet war.

Was aus ihr und ihrer Tochter wurde, lässt die Datenbank offen. Bei Max Anschel aber gibt es keinen Zweifel: „Gestorben an den Folgen der NS-Verfolgung“, heißt es auf Mapping the Lives, am 22. November 1944 – vor mittlerweile genau 80 Jahren.

Einmal angefixt von der Geschichte braucht es nur ein paar Klicks, bis ich im Netz noch mehr über Max Anschel gefunden habe. Auf den Seiten des United States Holocaust Memorial Museum gibt es eine Datenbank mit Namen von Opfern und Überlebenden des Holocaust. Dort kann man sogar Dokumente zu ihnen anfordern.

Wenige Stunden später habe ich sie per Mail vorliegen: darunter seine „Todesbescheinigung“, unterschrieben vom Lagerarzt des Konzentrationslagers Stutthof, einem „SS-Obersturmführer“ mit unleserlicher Unterschrift, der angibt, dass „Max Israel Anschel“ an „Herzmuskelschwäche“ gestorben sei.

Dazu die „Häftlings-Personal-Karte“ des KZ, aus der hervorgeht, dass Max Anschel am 28. Oktober 1944 von Auschwitz nach Stutthof gebracht worden war. Dass er ein Kind hatte. Und dass seine Ehefrau Anna damals immer noch unter der alten Adresse wohnte: Es ist das Haus, in dem ich heute lebe.

Die ganze Geschichte

Eine Langfassung dieser Recherche erscheint als sechsteilige Serie unter taz.de/MaxAnschel. Sie kann dort auch als Podcast angehört werden.

Das trifft mich. Wenn all dies offenbar seit vielen Jahren bekannt ist, warum liegt dann noch kein Stolperstein vor dem Haus?

Zuerst wende ich mich an die lokal Zuständige für die Verlegung von Stolpersteinen. Sie schreibt mir, dass die Verlegung der Steine auch auseinandergerissene Familien wieder zusammenbringen soll. Ich beantrage also die Verlegung von drei Steinen. Aber erst einmal muss ich die grundlegenden Fragen selbst beantworten: Wer waren die Anschels? Was wurde aus ihnen? Und warum?

Die historischen Adressbücher Berlins sind ein faszinierendes Dokument. Man findet sie im Internet auf den Seiten der Landesbibliothek, sie bieten einen Rückblick bis ins 18. Jahrhundert und lassen sich nach Schlagworten durchsuchen.

Nur bei meiner Suche nach eventuellen Opfern des Nationalsozialismus hatte mir diese Datenbank nicht weitergeholfen. Bisher. Doch wenn man weiß, was man finden will, stößt man auf ganze Lebensläufe. Oder zumindest auf Fragmente davon.

Im Adressbuch von 1932 wird ein Max Anschel in der Bergstraße 17 aufgeführt mit dem Zusatz „Biergebäck“. Das Haus liegt wenige hundert Meter von seiner späteren, letzten Adresse entfernt. Drei Jahre später, im Jahr 1935, gibt es in der Bergstraße 17 eine „Backwarengroßhandlung“ – allerdings nicht mehr unter Max Anschel, sondern unter dem Namen seiner Frau Anna, die im Branchenverzeichnis nun auch unter „Bäcker“ gelistet ist.

1936 sind die Anschels in die Elisabethkirchstraße gezogen, in das Haus, in dem ich heute wohne. Anna Anschel wird nun mit dem Zusatz „Gebäck“ erwähnt. Ein Jahr später heißt es, sie habe dort eine „Konfitürengroßhandlung“. Ihr Mann Max wird unter der gleichen Adresse als „Kaufmann“ geführt.

Nach 1945 verliert sich zunächst jede Spur der Familie. Aber im Ostberliner Telefonbuch des Jahres 1961 taucht sie wieder auf. Die mittlerweile erwachsene Tochter Ruth ist jetzt als „Dr. med“ verzeichnet – unter der alten Adresse ihrer Eltern. Sie bleibt dort bis mindestens 1967 wohnen. Kurz habe ich die Hoffnung, mit Ruth Anschel noch reden zu können. Sie wäre heute knapp über 90 Jahre alt. Aber eine Anfrage ans Einwohnermeldeamt ergibt: Sie ist bereits im Jahr 2000 gestorben. Auch ihre Mutter hat den Nationalsozialismus überlebt. Sie starb 1992 im Alter von 91 Jahren.

Das Haus, in dem ich wohne

Das Haus, in dem ich seit 25 Jahren wohne, ist unscheinbar. Ein Mietshaus mit acht Wohnungen. Kein Gewerbe. Keine Erker, keine Balkone, kein Stuck. Direkt gegenüber steht die Elisabethkirche. In den 1930er Jahren war die Gemeinde fest in der Hand der Nazis. „Daß wir unsere Kirche erneuern, verdanken wir dem Führer!“, stand 1936 auf einem Banner über dem Portal. Genau in dem Jahr, in dem die Anschels nebenan einzogen.

Wenn all dies offenbar seit vielen Jahren bekannt ist, warum liegt dann noch kein Stolperstein vor dem Haus?

Wie bei fast allen Häusern in der Rosenthaler Vorstadt hat sich auch hier die Bewohnerschaft radikal geändert seit dem Mauerfall. Länger als ich wohnt heute nur Wolfgang im Haus. Er zog als junger Mann in den 70er Jahren ein. Hat er vielleicht die Anschels noch in unserem Haus erlebt? Ich drehe an der alten Klingel an seiner Wohnungstür. Anschel?, fragt er. Da habe es doch dieses Ehepaar unter ihm gegeben, meint er. Aber Ehepaar, das kann ja nicht sein. Der Mann, Max Anschel, war ja schon seit 1944 tot. Und Juden? Nein, das sagt ihm gar nichts.

Ich stochere im Nebel. Also suche ich zunächst anderorts weiter, im KZ Stutthof, wo Max Anschel ums Leben kam. Die Geschichte dieses KZ wurde der deutschen Öffentlichkeit noch mal bekannt, weil sich eine einstige, mittlerweile fast 100 Jahre alte Sekretärin vor Gericht verantworten musste. Sie wurde im Dezember 2022 wegen „Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen“ schuldig gesprochen.

Das Camp war bis 1944 ein Arbeits- und Gefangenenlager. Dann entstand ein System des Terrors. Es gab dort ab Juli 1944 Gaskammern und auch regelmäßige Erschießungen.

Den Prozess hatte mein taz-Kollege Klaus Hillenbrand begleitet. Er vermittelt mit einen Kontakt zu Danuta Drywa. Sie ist heute Leiterin einer Gedenkstätte in Stutthof und antwortet mir binnen weniger Stunden.

Max Anschel war am 28. Oktober 1944 mit einem Transport aus dem Konzentrationslager Auschwitz nach Stutthof gebracht worden. Die Nazis holten damals ihre Häftlinge aus Auschwitz raus, weil sich von Osten her die Front näherte, die Rote Armee. Von Danuta Drywa erfahre ich, dass dies der letzte solcher Transporte war.

Max Anschel, schreibt mir Drywa, habe in Baracke 13 gewohnt, zusammen mit den dänischen Gefangenen. Sie glaubt, er sei in einem sehr schlechten körperlichen Zustand gewesen, weil er schon drei Wochen nach seiner Ankunft starb.

Aber wurde er ermordet? Die offizielle Todesursache war „Herzmuskelschwäche“. Die offiziellen Angaben auf den Totenscheinen hätte variiert, meint Drywa, aber meistens stimmten sie nicht. „Ich denke, dass wir es ‚ermordet in …‘ nennen können“, schreib Drywa. Mit anderen Worten: Es kommt nicht darauf an, ob ein Häftling vergast wurde, durch eine Spritze getötet – oder schlichtweg durch die katastrophale Lage im KZ ums Leben kam. Mord bleibt Mord.

Ein Mordversuch als Fußnote

„Als Frau und Mutter flehe ich Sie inständigst an, Ihre grosse Gnade walten zu lassen und meinen Mann zu befreien“

Anna Anschel in einem Brief an Heinrich Himmler, den „Reichsführer SS“

An dem Abend, als mich die Mail von Danuta Drywa erreicht, gebe ich nochmal den Namen „Anna Anschel“ in die Suchfunktion meines Handys ein, ohne groß darüber nachzudenken. Und da ist ein Treffer, den ich vorher nicht hatte. Plötzlich geht es nicht mehr nur um Max Anschel, sondern auch um seine Frau Anna.

Weil viele Bücher mittlerweile digitalisiert sind, lassen sich selbst Details aus ihnen über die Google-Books-Suche finden. Ein solches Detail steht in einer Disseration über das „Privileg Mischehe?“ Auf Seite 357 heißt es: „Anna Anschel aus Berlin beschuldigte nach dem Krieg einen Funktionär der NSDAP, der für die Einweisung ihres Mannes in ein KZ verantwortlich war, er habe versucht, sie im Mai 1945 zu töten, um zu verhindern, dass sie ihn nach Kriegsende anzeigen könne.“ Dies gehe, heißt es in der dazugehörigen Fußnote, aus einem Bericht von Anna und Ruth Anschel hervor, der im Diözesanarchiv Berlin zu finden sei.

Dort werden Dokumente aus kirchlichen Institutionen aufbewahrt – auch die des katholischen Hilfswerks, das allein einen Text wert wäre. Das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“, so sein offizieller Titel, war im Sommer 1938 gegründet worden, um den so genannten „katholischen Juden“ oder „katholischen Nichtariern“ zu helfen – also Menschen, die entweder selbst oder deren Eltern vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert waren, die nun von den Natio­nalsozialisten aber als „nichtarisch“ eingestuft, diskriminiert und verfolgt wurden.

Anna Anschel hat sich erst 1946, ein Jahr nach Kriegsende, an das katholische Hilfswerk gewendet. Das geht aus den Unterlagen des Diözesanarchivs zur Familie hervor, die ich im Lesesaal einsehen darf. Dort findet sich ein Fragebogen des Magistrats der Stadt Berlin aus dem Jahr 1946. Schon „1933 drang S.A.-Sturm Stettiner Bahnhof in unsere Wohn- und Geschäftsräume“, heißt es in dem von Anna Anschel ausgefüllten Formular. Bis 1938 hätten sie das Geschäft „unter größten Schwierigkeiten weiter geführt“. Dann sei „durch den großen Judenboykott unsere Existenz erledigt“ worden.

Sie berichtet, dass ihr Mann ab 1938 Berufsverbot hatte, später war er als Zwangsarbeiter in der Rüstungsproduktion in Berlin-Weißensee. Durch das „Privileg Mischehe“ war Max Anschel lange vor Deportation geschützt. Anfang 1944 kam er dennoch nach Auschwitz. Und hier stoße ich auf eine Geschichte von Verrat und Denunziation unter Nachbarn.

Zunächst ist da nur der kurze Hinweis auf eine massive Bedrohung, der mich überhaupt erst zu den Akten des Diözesanarchivs geführt hatte. „Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee im Mai 1945“, schreibt Anna Anschel, „wurde ich von 4 Leuten gewarnt, dass ich als ‚Judenaas‘ erledigt werden soll und zwar durch P.G. Klatt, der meinen Mann durch seine Intrigen ins K.Z. beförderte. Das schlechte Gewissen dieses Mannes hatte nun auch noch die Absicht, sich von seiner Anklägerin zu befreien.“

Anna Anschel gibt an, dass sie sich aus Angst vor dem Parteigenossen Klatt mit ihrer Tochter bei Bekannten verborgen habe. Währenddessen sei ihre Wohnung aufgebrochen worden. „Über Nacht nun hat man die Türfüllung zertrümmert, um dadurch in die Wohnung zu gelangen. Ich traf geplünderte Schränke und Kästen an. Wäsche, Kleidungsstücke etc. waren entwendet.“

Die Wohnung des Autors. Hier lebten die Anschels ab 1936, und die Tochter war hier noch bis in die 60er Jahre gemeldet Foto: Sophie Kirchner

Ein Gedanke drängt sich auf: Es könnte meine Tür sein. Kaum bin ich aus dem Diözesanarchiv zurück, nehme ich alle Wohnungstüren unter die Lupe. Das Haus ist eins der letzten unsanierten im Viertel. Eine zertrümmerte Türfüllung könnte Spuren hinterlassen haben. Aber ich finde nichts.

Auch wer dieser Klatt war, bleibt zunächst unklar. Das erfahre ich erst, als ich weitere Akten im Berliner Landesarchiv einsehen kann. Dort finde ich einen Brief mit einem überraschendem Adressaten.

Anfang 1945, ein Jahr nachdem Max Anschel nach Auschwitz deportiert wurde, schrieb seine Frau an Heinrich Himmler. Der Mann, der als Reichsführer SS die zentrale Instanz der Judenvernichtung war, ist ihre letzte Hoffnung. Und ihm schildert sie die Geschichte, wie ihr Mann von einem Nachbarn denunziert wurde – und so ins KZ kam.

Im Januar 1944 wollte die Familie bei Fliegeralarm in den Luftschutzkeller im Nachbarhaus. Aber „als wir das taten, bedrohte mich der Luftschutzwart mit Anzeigen, weil wir ‚vorn‘ bleiben sollten“, schreibt Anna Anschel an Himmler. „Von dieser Zeit an holte der Luftschutzwart sofort zu Beginn des Alarms meinen Mann mit den Worten: ‚kommen sie nach vorn‘ aus dem Keller. Dort liess er ihn von Anfang bis Ende des Alarms stehen.

Er musste draußen stehen vor der schützenden Stahltür, bis der Alarm aufgehoben wurde – angeblich um anschließend zu kontrollieren, ob das Haus durch Bomben getroffen worden war. Als die Familie sich weigerte, wurde Max Anschel angezeigt und festgenommen. „Am anderen Tage ging ich zur Gestapo. Der Sachbearbeiter Schwöbl – ein berüchtigter Sadist und Schläger – sagte mir persönlich: ‚Ich habe soeben ihren Mann wegen Feindbegünstigung verhaftet, da er Kontrollgänge verweigert hat. Die Zeugen sind der Parteigenosse Klatt und Krüger. Ihr Mann hat bereits gestanden‘“, schreibt Anna Anschel an Himmler. Der Parteigenosse Klatt hat also die Anzeige erstattet, die zu Verhaftung, Deportation und Tod geführt hat.

„Einem im Polizeigefängnis diensthabenden Beamten bestach ich. (…) Eines Abends liess mich der Beamte Müller in ein Kellerloch blicken. Ein Keller ohne Fenster, ohne Sitz- oder Schlafgelegenheit. Auf dem Steinboden lag mein Mann, ein an Typhus schwer erkrankt gewesener 57-jähriger Mensch. Leise rief ich: ‚Männe!‘ Mein Mann erschrak sehr und ebenso leise kam es zurück: ‚Liebling gehe‘“, heißt es weiter in dem Brief.

Foto: Abb.: US Holocaust Memorial Museum

„Meine Ausführungen, hochverehrter Herr Reichsminister, beweisen und zeigen, dass mein Mann das Opfer eines Irrtums ist. Als Frau und Mutter flehe ich Sie inständigst an, Ihre grosse Gnade walten zu lassen und meinen Mann zu befreien. Seien Sie meines steten Dankes gewiss.“ Was Anna Anschel nicht wissen konnte, als sie diesen Bittbrief an Himmler schrieb: Ihr Mann war da schon zwei Monate tot.

Denunziation durchdie Nachbarn

Die Akten aus dem Landesarchiv erzählen noch mehr – von anhaltender Drangsalierung über Jahrzehnte. Aber immer wieder muss ich sie eine Zeit lang zur Seite legen, weil mir die Geschichte nah geht.

Als ich mir Monate später die Akten noch einmal genauer durchlese, finde ich den Bericht eines Straßenobmanns aus dem Jahr 1946, laut dem Nach­ba­r:in­nen Anna Anschel beschuldigen. Nicht die Nazi-Luftwarte Klatt und Krüger, sondern sie selbst sei schuld an der Deportation ihres Mannes, heißt es dort. „Anschel stand bei seiner Frau unter dem Pantoffel, und hatte nur das auszuführen, was seine Frau sagte“, schreibt der Straßenobmann. Nur deswegen habe Max Anschel die Anweisungen der Luftschutzwarte zurückgewiesen und sei verhaftet worden. Er fordert daher, Anna Anschel ihre Einstufung als Opfer des Faschismus (OdF) abzuerkennen.

In seinem Bericht beruft sich der Obmann auf die Aussagen vieler Nachbar:innen. Darunter auch die Frau des mittlerweile festgenommenen P.G. Klatt, die zu der Zeit im Nachbarhaus wohnt. Tatsächlich muss Anna Anschel ihren OdF-Ausweis abgeben.

Aber zum Glück hat sie auch viele Zeugen für ihre Version. In einem zusammenfassenden Bericht an den Hauptausschuss „Opfer des Faschismus“ wird schließlich festgestellt, dass die Anschuldigungen der Nach­ba­r:in­nen „vollständig den Tatbestand“ verdrehen. Es gebe eine eidesstattliche Aussage, „dass das Haus, in dem Frau Anschel wohnt, ein richtiges Nazi-Nest war“. Sie wird wieder als Opfer anerkannt.

Doch die Anfeindungen durch die Nach­ba­r:in­nen gehen weiter. Noch 1963 wendet sich Anna Anschel an die Kreisleitung Mitte der Sozialistischen Einheitspartei. Darin klagt sie über die Familie M., die erst Anfang der 1960er Jahre in die Wohnung unter ihr gezogen sei.

Als sie und ihre Tochter ein paar Tage abwesend waren, sei mal wieder die Toi­lette in ihrer Wohnung wegen Verstopfung übergelaufen. Statt wie üblich das Wasser im Keller abzudrehen, habe der Herr M., der unter ihr wohne, gleich die Volkspolizei gerufen, um ihre Wohnung aufbrechen zu lassen. Das muss sie an das Trauma der aufgebrochenen Wohnung in den letzten Kriegstagen erinnert haben.

Der Streit eskaliert. „Darauf gab mit Herr M. zu verstehen, dass er verschiedenes über mich gehört habe“, schreibt Anna Anschel weiter. Für sie war das offensichtlich die fortgesetzte Form antisemitischer Hetze „Was sollen die Worte, dass er verschiedenes über mich gehört habe?“

Und mir wird plötzlich etwas klar: Denn ich habe das Ehepaar M. noch kennengelernt. Es wohnte im Haus, als ich Jahrzehnte später eingezogen bin. Die beiden rauchten gern am offenen Fenster, sodass der Qualm in die Wohnung eins höher zog: bei uns. Und so weiß ich, dass genau hier, wo ich gerade diesen Text schreibe, auch Anna Anschel und ihre Tochter Ruth lebten. Und 20 Jahre davor auch ihr Mann Max, der vor 80 Jahren im KZ Stutthof ermordet wurde.

Bei uns an der Küchenwand hängt ein kleiner Tapetenrest. Ein einfaches bräunliches Blumenmuster auf ockergelbem Grund. Er kam zum Vorschein, als wir die Hängeschränke unsere Vormieter abnahmen. Es ist gut möglich, dass Max, Anna und Ruth Anschel schon vor der gleichen Tapete gesessen haben wie ich jetzt. Es ist sicher, dass nebenan der Nazi Klatt gelebt hat, der mit seiner Anzeige die Deportation einleitete. Und es ist klar, dass ich genau deshalb diese Geschichte aufschreiben muss. Die Geschichte meiner Vormieter. Damit sie nicht vergessen bleibt.

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