: Erst war der Wille, dann der Weg
Dass es in Deutschland einen Meister des Blaudruckhandwerks gibt, grenzt an ein Wunder. Holger Starcken heißt er. Und ohne Glück, Beharrlichkeit und die DDR wäre er es nicht
Von Luisa Faust (Text) und Toni Petraschk (Fotos)
Lebensgeschichten sind oft von Zufällen geprägt. Und davon, sich im richtigen Moment nicht nur für etwas, sondern auch gegen etwas zu entscheiden.
Draußen: Am Berliner Müggelsee liegt Rahnsdorf, ein Randbezirk. Hier riecht es nach Kiefernnadeln, feucht und erdig. Direkt am Wald steht das Haus von Holger Starcken, seiner Frau Regina und seinem Sohn Richard, nur ein Stockwerk hoch und unscheinbar. Es ist vieles gleichzeitig. Werkstatt, Geschäft, Ausstellungsraum, Büro, Nähstube und das Zuhause einer Familie.
Drinnen: Wer durch die Eingangstür geht, steht erst einmal in einem Verkaufsraum. Auf Kleiderstangen hängen Blusen und Schürzen, in Schränken liegen Tischdecken, Handtücher und Kissenbezüge. An der Decke leuchtet ein fein gemusterter Lampenschirm. An der Wand hängen Tücher, auf denen weiße Bäume schimmern. Für viele Jahre hingen sie in der japanischen Botschaft, aber als das Personal wechselte, brachte eine Delegation sie zu Holger Starcken zurück. Denn er ist der, der die Muster auf den Stoffen entworfen hat, sie auftrug und dann färbte, so wie er alles in diesem Raum aufgetragen und gefärbt hat. Die Muster sind unendlich verschieden, aber die Farbe ist immer gleich. Indigo, ein tiefes Mitternachtsblau.
Das Blau: Starcken beherrscht ein seltenes Handwerk: den Blaudruck. So wie er färbten schon vor 2.000 Jahren Inder*innen und ägyptische Kopt*innen ihre Stoffe. Dabei trägt Starcken zunächst feine Muster auf den Stoff auf. Nach dem Färben erscheinen diese in Weiß auf blauem Grund. Gefärbt wird mit Auszügen der Indigopflanze, sie wächst in Indien und Guatemala. Damit die Stoffe das Blau satt aufnehmen, taucht Starcken sie immer wieder in die Küpe, so heißt die Färbertonne. Dazwischen muss der Stoff an die Luft, denn erst durch Oxidation entwickelt sich die Endfarbe. Erst ist sie weiß, dann grün und endlich tief blau. „Das hat etwas Mystisches“, sagt Starcken.
Die Magie: Ein Zauber liegt auch darin, wie Starcken zu seinem Handwerk gekommen ist. Er erzählt es so: Ende der Siebzigerjahre, da ist er Mitte 20, studiert Starcken Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität in Ostberlin. Eines Tages betritt er ein Antiquariat in der Frankfurter Allee, zufällig, ohne etwas Bestimmtes zu suchen. In einem Regal liegen fünf Gegenstände aus Holz, flach, mit einer Schnitzerei auf der Oberfläche. Dass das Druckplatten sind, erkennt Starcken, doch wozu sie verwendet werden, weiß er nicht. Sie ziehen ihn an, die feinen Muster, die Blumen und Ornamente. Fünfzehn bis zwanzig Mark will der Verkäufer pro Platte. Das ist viel Geld für Starcken, aber er kauft die fünf Druckstempel trotzdem.
Die Berufung: Die Druckplatten werden zu Starckens neuer Aufgabe. Sein Studium interessiert ihn ohnehin immer weniger, die Rechtswissenschaften sind ihm zu ideologisch, zu sozialistisch. In der DDR entscheidet Parteitreue, ob man großer Richter oder kleiner Notar wird, nicht Fleiß oder Fähigkeiten. Starcken will da nicht mitspielen.
Die Neugier: Statt im Lesesaal der Humboldt-Universität Rechtstexte zu studieren, sitzt er nun ständig in der Stadtbibliothek und schlägt nach, liest alles, was er über Drucktechniken finden kann. Er lernt, dass seine Druckplatten Model heißen und für den Blaudruck genutzt werden. Kurz danach bricht er sein Studium ab. Um Geld zu verdienen, arbeitet er bei der Post, ein Jahr lang nimmt er Pakete an und gibt sie aus. In jedem freien Moment liest er weiter und trifft eine Entscheidung. Er wird Blaudrucker.
Der Anfang: In seinem Jahr bei der Post bereitet Starcken sich vor. Er legt Geld zurück. Er beginnt Materialien zu beschaffen. Beharrlich quatscht er sich durch, bis er auch ohne Genehmigungen in der DDR alles kaufen kann, was er braucht. Als erstes Gummi arabicum und Tonerde, um Papp zu kochen. Die Masse wird auf die Druckstempel aufgetragen und dann auf den Stoff gepresst, nach dem Färben und Waschen bleibt das weiße Muster zurück. Neun Monate verbringt er damit, nach Rezepten aus alten Büchern Papp zu kochen, immer wieder, bis der erste gelingt.
Der Wille: Wenn Starcken von sich und seinem Beruf erzählt, dann gibt es da viele dieser Momente, in denen er dranbleibt, weitermacht, sich seinen Weg aus eigener Kraft freischlägt. In der DDR braucht er, um ein Handwerk eintragen zu können, eine Ausbildung, einen Nachweis darüber, dass seine Tätigkeit einen Nutzen hat. Aber für einen wie ihn gibt es keine Musterurkunde, und es gibt auch keine anderen Blaudrucker, die Ausbildungsplätze anbieten.
Der Weg: Unter der Woche arbeitet er am Hackeschen Markt in einer Siebdruckerei, seine Tage fangen jetzt im Morgengrauen an. Freitags und samstags besucht Starcken in Leipzig eine Schule und lässt sich zum Druckereifacharbeiter ausbilden. Am Frauentag 1982 hat er es geschafft. Mit seiner Urkunde darf er sich selbstständig machen. Jetzt ist es ihm auch erlaubt, Material für seinen Papp und für seine Küpe zu kaufen. 1983 bedruckt er in seinem Atelier die ersten Stoffe. Später legt er noch eine Prüfung ab, um „Anerkannter Kunsthandwerker“ zu werden, denn damit dürfen seine Stoffe auch im staatlichen Kunsthandel verkauft werden.
Der Meisterbrief: In den Gesetzesblättern zum Handwerk liest Starcken, dass es für seltene Berufe eine Meisterausbildung geben soll, auch für den Blaudrucker. Der Bezirk Dresden sei dafür zuständig. Dort weiß zwar niemand davon, aber Starcken besteht auf seinem Recht. Er darf die Prüfung ablegen und wird der erste Blaudruckmeister. Nach ihm gehen nur wenige andere diesen Weg, und nach der Wende entscheidet eine Kommission, welche Meisterberufe noch benötigt werden. Der Blaudruckmeister gehört nicht dazu. Inzwischen ist Starcken der einzige Drucker mit Meisterbrief, der noch arbeitet.
Die Wende: Den staatlichen Kunsthandel gibt es im geeinten Deutschland nicht mehr, aber die Unsicherheit, die daraus entsteht, bleibt nicht lange. Über die verschwundene Grenze kommen Zeitungen nach Rahnsdorf. Der Tagesspiegel berichtet über das Atelier, Schöner Wohnen druckt eine mehrseitige Strecke. „Das hat uns gerettet“, sagt Starcken, die Nachfrage stieg. Auch ins Schloss Bellevue schaffte es so eine Tischdecke, die Starcken bedruckt hat.
Der Sohn: Seit 42 Jahren kann die Familie vom Blaudruck leben. Aber Holger Starcken wird älter und um die schweren nassen Stoffe aus der Küpe zu heben, braucht man Kraft. Einen Teil der Arbeit hat inzwischen der jüngste seiner vier Söhne übernommen: Richard, der schon als Kleinkind mit seinem Vater an der Küpe stand. Nach der Schule arbeitete er als Hotelfachmann, als Tourismusmanager, in der Gastronomie und studierte ein paar Semester Forstwissenschaft. Aber er hat nie ganz losgelassen, war immer da, um seinem Vater zu helfen. Erst nur nebenbei, inzwischen ist das Blaudrucken zu seinem Beruf geworden.
Der Assistent: Wenn Richard Starcken darüber spricht, was ihn antreibt, erzählt er von denen, die seine Stoffe kaufen. Ein Stück Blaudruck mitzunehmen, das mache den Leuten spürbare Freude. Er glaubt, dass das an der Geschichte, der Blaudrucktradtion liegt, die jedes Stück verkörpert. Und in der Zukunft, denn das Blau in den Stoffen hält ewig und kann über Generationen weitergegeben werden.
Die Gegenwart: Inzwischen verkaufen die Starckens auf Kunstmärkten, von Oktober bis März sind sie dazu in ganz Deutschland unterwegs. Das ist viel Arbeit. Doch ein Onlineshop kommt für sie nicht in Frage, viel zu groß wäre der Aufwand – die Stücke zu fotografieren und zu katalogisieren –, denn jedes ist ein Unikat. Zu expandieren, ist ohnehin nicht das Ziel. Sechs bis sieben Stunden täglich wird im Atelier gedruckt, und obwohl sie mit den Jahren ein bisschen schneller geworden sind, bleibt eine Grenze: „Ich kann nicht mehr drucken und färben, als der Tag hergibt“, sagt Starcken.
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