20 Jahre Festsaal Kreuzberg
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„Ein Ort, auf den alle neidisch waren“

Geile Bands, gerissene Saiten und wilde Kongresse: Fünf persönliche Erinnerungen – und Danksagungen – an den Festsaal Kreuzberg

Ein Sommerabend 2006: Ich war seit langer Zeit wieder einmal bei einem Konzert, es spielte die Gruppe Wolf Eyes. Nicht nur die Band war geil, ich hatte auch ein so internationales und cooles Publikum vorher in Berlin noch nicht gesehen. Total euphorisiert, etwas eingeschüchtert und betrunken fuhr ich mit dem Taxi nach Hause, setzte mich mit einem Bier von der Tankstelle an den Schreibtisch und schrieb den Song „Kapitulation“, noch ganz im Bann der Klangschlacht aus dem Festsaal.

Dirk von Lowtzow, Tocotronic

Es war die Tour zum Release von „24/7“, als wir unser Stammpublikum mit einem viel zu discolastigen, viel zu elektronischen Album provoziert haben. Wir stellen gerade die aktuelle Single vor und die Toleranz unserer Fans auf die Probe, als Bassist Wenzel mitten im Song eine Saite reißt. Anstatt dass jetzt aber ein Roadie den Ersatzbass auf die Bühne schmeißt, geht Thomas in den Keller des Etablissements und repariert in aller Seelenruhe sein Instrument, während der Rest auf der Bühne den Mittelteil von „Life in Quiz“ verlängert. Der Begriff Extended Version erfährt an Ort und Stelle eine Neudefinition. Der Festsaal Kreuzberg ist ein Ort, an dem das möglich ist, wo auch mal etwas schiefgehen darf und muss, damit Veränderungen passieren können. Verändert hat er sich selbst, durch seinen Umzug, ebenfalls erheblich. Und wir dürfen mit. Gerne. Danke dafür.

Frank Spilker, Die Sterne

Der „alte“ Festsaal Kreuzberg war ein Ort, auf den alle neidisch waren. Leute aus anderen Städten oder Ländern waren schockiert, dass es hier so einen schönen Club gibt. Auch Gäste aus anderen Stadtteilen haben sich verblüfft die Augen gerieben. Aber auch im Festsaal an neuer Stätte in Treptow habe ich schon sehr viele gute Konzerte erlebt, meine persönlichen Highlights: das Sun Ra Archestra und Andreas Dorau.

Brezel Göring (ehemals Stereo Total)

Ungefähr 1980 verbrachte ich als Teenager eine Nacht auf der Verkehrsinsel des Kottbusser Tors mit meinem Freund Rocko Schamoni. Wir wollten „Schnorren am Kotti“. Es klappte aber gar nicht gut, weil die Scheißautos störten und wir auch schnell einpennten. Besoffene Möchtegern-Citypunks auf der Suche nach der gegenüberliegenden Seite des Wirtschaftswunder-Mondes. Die damals schon als verwegen beschriebene Aura des Kiezes 36 funktioniert für manche noch heute, glaubt man Leitkultur-Fans wie Kanzlerkandidat Friedrich Merz („Kreuzberg ist nicht Deutschland“). Aus diesem Munde, ein Segen! Es braucht die übrig gebliebenen Inseln des vermeintlich „Anderen“ anscheinend ganz bitter. (Letzte) Auswegplaneten verteidigen. Für Möglichkeiten. Mit Leuten. Und Läden. 20 Jahre Festsaal Kreuzberg. Ein Jahrzehnt am Kotti, danach weiter in Alt-Treptow. Jauchz! Im Dezember feiern wir dort zusätzlich, qua großer Gala, als „Die Goldenen Zitronen / Zauberhafte Ballnacht und ihre Genoss*innen“ unser 40-jähriges Jubiläum (rüstig). Trunkener Jubel unsererseits!

Schorsch Kamerun, Die Goldenen Zitronen

Ich erinnere mich an vieles, wenn ich an den Festsaal Kreuzberg denke. An den Hochzeitsthron im „alten“ Festsaal etwa, an die Tische mit Tischdecke dort, an die ständigen Umbauten und selbstverständlich an den Brand. Ebenso erinnere ich mich an vieles aus dem neuen Festsaal, an die erste große Lesung für Deniz Yücel, der damals im türkischen Knast saß, an riesige leere Säle, in denen wir Internet-Liveshows gemacht haben während der Coronapandemie, an mitreißende Konzerte und an wilde Kongresse. Woran ich mich hingegen nicht erinnern kann, ist, dass der Festsaal und seine Betreiber jemals etwas anderes waren als solidarische Begleiter und politisch absolut verlässliche Gefährten. Dafür danke ich sehr.

Jörg Sundermeier, Verbrecher Verlag