Wenn der Dirigent am Taktstock die weiße Fahne hisst

An der Wiener Staatsoper wird der neue „Don Carlo“ in der Regie von Kirill Serebrennikow zu einem Kostümball der besonderen Art

Von Joachim Lange

Es bleibt nachvollziehbar, dass die Wiener Staatsoper Kirill Serebrennikow mit der „Don Carlo“-Neuinszenierung beauftragt hat. Diesmal die vieraktige italienische Fassung von 1884. Der im Exil lebende Russe, der sich bereits von seinem Moskauer Hausarrest aus im Westen als Regisseur etabliert hatte, ist durch seine Biografie für die ambitionierteste Schilleroper Verdis prädestiniert. Schon, weil hier das Private so politisch ist wie selten. Und weil sich Schiller und Verdi mit Genie und Pathos auf die Seite der Freiheit stellen.

Außerdem hat Serebrennikow schon mit seinem Wiener „Parsifal“ gezeigt, wie man aus einer Großoper des 19. Jahrhunderts mit szenischer Relevanz für die Gegenwart packendes Musiktheater macht. Sein Pariser „Lohengrin“ war gar eine der politischsten und packendsten Inszenierungen der vorigen Spielzeit! Den damit selbst gesetzten Erwartungen ist er jetzt in Wien verblüffenderweise nicht mal ansatzweise gerecht geworden.

Im Grunde hat er nur gegen das Klischee aninszeniert, „Don Carlo“ sei ein Kostümschinken, indem er diese Idee auf die Spitze treibt. Man hätte verstanden, wenn Philipp II. bei ihm einem Diktator von heute geglichen hätte. Stattdessen banalisiert er szenisch, was musikalisch hochdramatisch und packend erzählt wird. Ausbeutung in der globalisierten Textilindustrie, Umweltverschmutzung oder brennende Wälder als Symptom der Natur­katastrophen sind schlimm. Aber lassen sich die allseits bekannten Videobilder dazu wirklich gegen die Barbarei eines Autodafé in Stellung bringen? Ist das nicht längst ein zeitlos gültiges Bild dafür, wozu Menschen und von ihnen geschaffene Institutionen fähig sind?

Das Stück zerbröselt wie am Ende schließlich das Gewand von Karl V.

Serebrennikow verlegt das Geschehen (auch als Ausstatter) – in ein steriles „Institut für Kostümgeschichte“. Hier werden die Originalkostüme des spanischen Hofes von Philipp II. nicht nur aufbewahrt und gepflegt, sondern auch am lebenden Objekt auf ihre Brauchbarkeit geprüft. Der König ist hier nur der Verwaltungschef mit Aktentasche, der Großinquisitor hat offenbar das letzte Wort. Stumme Darsteller-Alter-Egos von Philipp und Carlos, Elisabeth und Eboli werden von Helfern mit prächtig nachgearbeiteten Originalkostümen akribisch ein- – und dann wieder ausgekleidet. Dazu gibt es biografische Notizen zu den historischen Vorbildern des Opernpersonals. Serebrennikow verlängert so die Vorlage rückwärts in die Zeit der Handlung und vorwärts in die Gegenwart. Simpel nebeneinander gestellt, ergibt das weder eine Zeitreise noch einen Durchgriff oder eine konsistente Überschreibung. Das Stück zerbröselt auf dieser dramaturgischen Folter wie am Ende das Gewand von Karl V.; immerhin ein Schlusspunkt als selbstreferenzielle Pointe.

Was von Liebe und Staats­raison zwischen Elisabetta und Carlo, oder der Selbsttäuschung der Eboli, von Freundschaft zwischen Carlo und Posa, oder von der Utopie von Freiheit und der Sehnsucht nach einem Menschen von Posa und Philipp verhandelt wird, bleibt in dem Hin und Her der Ebenen letztlich der musikalischen und darstellerischen Überzeugungskraft der Protagonisten vorbehalten. Und da hatte die Staatsoper die Exzellenz auch zu bieten, die man hier zu Recht erwartet. Das fängt an beim scheidenden Musikchef der Oper Philippe Jordan und dem Orchester der Wiener Staatsoper, die einfühlsam keine intime Passage unterschlugen, nie gegen, sondern immer mit den Sängern waren, aber auch das Pathos auflodern ließen, wo es hingehörte. Jordan lieferte obendrein einen szenischen Beitrag, als er einer aufkommenden Buh-Attacke während der Vorstellung ein weißes Tuch an seinem Taktstock sichtbar entgegenhielt. Ob schlichtendes Friedensgebot oder eigene Kapitulation vor dem, was oben passierte, ließ sich so genau nicht sagen. Die Protagonisten wurden jedenfalls durchweg und zu Recht von der Gunst des Publikums getragen. Von Joshua Guerrero als Carlo, Étienne Dupuis als Posa und einem herausragenden Roberto Tagliavini als Philipp bis zu Eve-Maud Hubeaux als Eboli und natürlich Asmik Grigorian als Elisabetta war vokaler Luxus angesagt. Für sie alle war Beifall so einhellig wie der Buhsturm für die Regie.