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100 Mal Zukunft

Sie lesen hier die 100. wochentaz. So lange gibt es auch einen neuen Zeitungsteil – die Zukunft. Wie geht das: utopischer Journalismus?

Dass es schön werden kann, konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Als die taz vor ein paar Jahren einen Neubau mitten in Berlin bezog, blieb direkt neben dem neuen Haus eine Baulücke. Hier sollte ein Gemeinschaftsgarten entstehen. Ich kannte solche Orte, wo plötzlich neben einem Kreisverkehr ein Tor zum Dschungel aufgeht. Aber nun stand ich neben der taz auf einem Platz mit staubigem Boden voller Bauschutt. An drei Seiten Hauswände, vorne die Straße. In der Mitte standen ein paar Bäume. Ehrenwerte Idee mit dem Garten, dachte ich. Aber hier wird definitiv kein Paradies entstehen.

Heute schüttle ich den Kopf über meine Fantasielosigkeit von damals. Beete schlängeln sich über das Gelände, dazwischen Terrassen, an Sommerabenden leuchten bunte Lampions neben dem selbstgebauten Pizzaofen, es gibt eine Fahrradwerkstatt und Bienenstöcke. Warum fiel es mir so schwer, mir auszumalen, dass aus dieser staubigen Baulücke ein Ort werden könnte, an dem Menschen gern Zeit verbringen und der ihnen guttut? Warum konnte ich nicht weiter denken?

Seit November 2022 gibt es in der wochentaz einen Zeitungsteil, der Zukunft heißt. Es soll ein Raum sein, in dem das Nachdenken über Utopien in der taz ein Zuhause bekommt. Eine Sache, die ich dabei gelernt habe: Utopisch denken, das sagt sich leicht, aber es ist verdammt schwer. Unser Utopiemuskel ist nicht gut trainiert. Sobald wir damit anfangen, uns eine bessere Zukunft auszumalen, blinkt im Kopf eine Warnleuchte auf. Sie heult: „Ja, aber das ist doch unrealistisch.“

Auch Klimaschutzvorhaben etwa werden immer wieder als unrealistisch bezeichnet. Dabei sind es in der Klimapolitik doch oftmals die selbsternannten Realist*innen, die die harte Realität verdrängen. Dass es nämlich sehr gut wissenschaftlich belegt ist, dass wir eine Trendwende in kaum denkbarem Ausmaß brauchen, damit die Klimakrise uns nicht mit vollster Wucht trifft.

Wir müssen die Grenze zwischen realistisch und utopisch neu vermessen.

An diesem Wochenende erscheint die hundertste Ausgabe der wochentaz und damit hundert Mal Zukunft. Zukunftsjournalismus, was kann das überhaupt sein?

Ein Grundproblem, auf das ich gestoßen bin, ist, dass wir die Zukunft auf dem Mond suchen. Seit der Gründung der Zukunft bekommen wir immer wieder Themenangeboten zum Weltraum. Es ist eins der beliebtesten Themen vieler Wissenschaftsressorts. Und auch wir schreiben hin und wieder darüber.

Es ist verlockend, sich die Städte der Zukunft wie Mars-Kolonien als neu gebaute Orte auszumalen, in denen alles von Anfang an richtig gemacht wird. Transport, Müllentsorgung, Begrünung. Nochmal neu anfangen. Aber das ist eben nicht die Zukunft. Es gibt nicht den einen Masterplan, wir müssen im Hier und Jetzt anfangen. Weil Zukunft schon morgen ist.

Die Seite 1 der Zukunft

In der Zukunftsredaktion haben wir uns also verordnet, den Utopiemuskel kontinuierlich zu trainieren. Wir haben ein konkretes Übungsprogramm für unsere Le­se­r*in­nen entworfen – taz.de/utopietraining – das mittlerweile sogar in Uniseminare aufgenommen wurde. In einer monatlichen Kolumne bekommt die Science-Fiction-Autorin Theresa Hannig Besuch von einem Zeitreisenden und beschreibt, wie heutige Probleme im Jahr 2124 gelöst sein werden.

Natürlich trainieren wir weiter, auch nach der hundertsten Runde. Ab Herbst entwickelt in Leipzig ein ganzer Kurs von Journalistik-Studierenden neue Ideen für den Zukunftsteil und eine andere Gruppe von jungen Jour­na­lis­t*in­nen entwickelt in Kollaboration mit uns gerade sogar einen KI-basierten Zukunftsgenerator. Die taz-Gründer*innen haben damals gesagt: Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche! Luise Strothmann