Weitspringer Rehm bei den Paralympics: Grenzen der Inklusion

Parasportler Markus Rehm steht vor seinen vierten Paralympics vor dem maximalen Erfolg. Doch er hätte sich mehr gewünscht.

Ausnahmespringer: Markus Rehm bei der Deutschen Meisterschaft in Erfurt im Juni Foto: imago

Markus Rehm bringt das Publikum zum Staunen, das ist seit Jahren eine Selbstverständlichkeit. Der unterschenkelamputierte Weitspringer ist seit 2010 ungeschlagen. Er hat bei Weltmeisterschaften sieben und bei Europameisterschaften fünf Titel gefeiert. An diesem Mittwoch in Paris wird Rehm bei seinen vierten Paralympics sehr wahrscheinlich seine vierte Goldmedaille im Weitsprung gewinnen. Kaum jemand dominiert eine Sportart so sehr wie er.

Doch eine solche Dominanz ist in der Unterhaltungsindustrie Sport medial und kommerziell von begrenztem Wert. Die Bestleistung von Markus Rehm liegt bei 8,72 Meter, paralympischer Weltrekord. Doch auch im Weitsprung der Nichtbehinderten sind bislang nur acht Männer weiter gesprungen als Rehm. Der Weltrekord stammt von 1991: Der US-Amerikaner Mike Powell sprang in Tokio 8,95 Meter. Vor wenigen Wochen bei den Olympischen Spielen in Paris genügten dem Griechen Miltiadis Tendoglou sogar nur 8,48 Meter für die Goldmedaille.

Es ist gut möglich, dass Markus Rehm diesen Wert in Paris übertrifft, doch auch das wäre keine große Schlagzeile mehr. Stattdessen möchte er im Alter von 36 Jahren möglichst nah an die Neunmetermarke heranspringen. Dass er sie überschreitet, ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Womöglich würde er sogar bei den Paralympics 2028 in Los Angeles, dann mit 40, locker und leicht die Goldmedaille gewinnen. Doch in dieser Vorhersehbarkeit liegt auch eine gewisse Tragik.

Irgendwann wird Markus Rehm seine Laufbahn beenden. Als Seriensieger, Vorbild und Werbefigur, aber eben auch als Sportler, der nicht bis an die letzte Grenze gehen durfte. Denn die größte Bühne des Sports wird ihm wohl verwehrt bleiben.

Klage für Startrecht

Markus Rehm setzte sich jahrelang dafür ein, auch bei den Olympische Spielen zu starten. Athleten, Funktionäre und Wissenschaftler diskutierten, ob er mit seiner Prothese einen unfairen Vorteil gegenüber Nichtbehinderten habe. Es wurden Studien verfasst und Dokumentation gedreht, aber eine unumstrittene und zukunftsweisende Antwort gibt es nicht wirklich. Für die Olympischen Spiele 2021 in Tokio wollte Rehm sein Startrecht einklagen, aber er scheiterte vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS.

Es ging in der Debatte lange um technische, biologische und orthopädische Details. Vereine und Verbände aus der olympischen Leichtathletik fürchteten einen Präzedenzfall. Wenn sie Rehm zulassen würden, so die Sorge von einigen, dann würden irgendwann Prothesenspringer die Medaillen und Prämien unter sich ausmachen. Doch inzwischen dürfte klar sein: Rehm ist vor allem wegen seiner Athletik und mentalen Stärke zum besten Weitspringer seiner Generation aufgestiegen.

Die politische Dimension kam in dieser Debatte zu kurz. Bereits 2006 hatten die Vereinten Nationen die Inklusion als Leitmotiv festgeschrieben, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Das Internationale Paralympische Komitee IPC gab ein Jahr später das Ziel aus, spätestens 2016 nicht mehr als Fachverband zu wirken. Behinderte und nichtbehinderte Athleten sollen in denselben Strukturen der jeweiligen Sportarten aktiv sein, so der Plan. Doch bis heute muss das IPC in etlichen Sportarten die Para-Weltmeisterschaften selbst ausrichten, auch in der Leichtathletik.

Unsicherheit an der Basis

Am Beispiel von Markus Rehm wird deutlich, wie wenig sich die ­olympische Welt für die paralympische interessiert. Und wie weit der Sport von tatsächlicher Inklusion entfernt ist. Rehm ist einer der wenigen Sportler mit Prothese, die bei Olympia hätten mithalten können. Es ist nicht vollständig klar, ob er dort einen unfairen Vorteil gehabt hätte. Aber es ist klar, dass seine Teilnahme für Millionen Menschen mit Behinderungen eine Inspiration gewesen wäre.

Was die breite Öffentlichkeit nicht mitbekommt: Markus Rehm bestritt lange mehr als ein Dutzend Wettkämpfe pro Jahr. Bei kommerziellen Meetings vermarkteten ihn die Gastgeber als Gesicht seiner Sportart, er trat dort oft gegen Nichtbehinderte an. Bei regionalen und deutschen Meisterschaften hat er sich ebenfalls mit olympischen Kollegen gemessen, allerdings wurde er meist in einer Sonderwertung gelistet.

Außerhalb des Fußballs ist Markus Rehm einer der bekanntesten deutschen Sportler. Aber er war auch umstritten: Etliche Olympia-Weitspringer betrachteten ihn mit Distanz, denn sie wollten nicht gegen einen Mann mit Prothese verlieren. Einige Paralympier waren genervt, weil sie Rehm in ihrer Bewegung als abtrünnig ansahen.

Diese Kontroverse hat auch an der Basis für Unsicherheit gesorgt. Veranstalter und Kampfrichter von Sportfesten tun sich mitunter schwer, Jugendliche mit Behinderungen zu integrieren. Einige von ihnen glauben, dass man mit Prothese generell einen Vorteil habe. Sie wissen nicht, wie groß die Überwindung für Menschen nach einer Amputation sein muss, um sich überhaupt mit Spitzensport zu befassen.

Markus Rehm wird irgendwann seine Laufbahn beenden. Der internationale Sport wird dann eine Chance für Inklusion vertan haben. Mit seiner Prothese mag Rehm der beste Weitspringer der Welt sein. Aber am Ende bleibt der Eindruck bestehen, dass er sein Talent nicht völlig frei entfalten konnte.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.