rechter aufruhr in england
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In Falschmeldungen vereint

In vielen britischen Städten kommt es zu Krawallen gegen Migranten und Muslime – Auslöser sind Falschmeldungen zu einem Mord an drei Kindern. Die Regierung erwägt hartes Durchgreifen

„Bin ich rechtsextrem?“, fragt das Schild dieser Demonstrantin gegen Migration am Sonntag in Aldershot Foto: Fo­to:­Suz­an­ne Plunkett/reuters

Aus London Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Noch vor wenigen Wochen glaubten so manche in Großbritannien, das Problem des Rechtsextremismus sei eines von EU-Staaten, gegen das man immun sei. Doch die Unruhen seit dem Mord an drei Mädchen in der nordwestenglischen Stadt South­port am vergangenen Montag lassen dies anders aussehen. Nicht nur wegen der gewalttätigen Ausschreitungen in Southport am Dienstag und danach in Hartlepool und Manchester, sondern wegen der Mobilisierung Rechtsextremer im ganzen Land danach.

Am Wochenende gingen in unzähligen englischen Städten Rechtsextreme auf die Straße: Sunderland, Stoke-on-Trent, Blackburn, Bolton. Leeds, Hull, Bristol, Newcastle, Liverpool, Preston, Portsmouth Blackpool, Nottingham, vom Süden bis zum Norden und vom Westen bis zum Osten Englands. Sogar im nordirischen Belfast, wo pro-irische katholische und pro-britische protestantische Rechte gemeinsam gegen Migration auf die Straße gingen. In über 30 Städten wurde gegrölt und geschrien, Fahrzeuge wurden in Brand gesetzt, Flaschen und Feuerwehrkörper geworfen, Läden zerstört und geplündert und Menschen verprügelt. Die Randalierer waren oftmals vermummt und hüllten sich in die rot-weiße englische Flagge. In Sunderland wurde eine Polizeiwache in Brand gesetzt.

In Hull und in Aldershot hatte es die Meute auf Hotels abgesehen, in denen Asylsuchende untergebracht sind, in Stoke-on-Trent auf eine Moschee. Einige Szenen wurden von den wütenden Mobs live gestreamt. Ihre Opfer waren neben Polizeibeamten auch Menschen mit dunkler Hautfarbe.

An verschiedenen Orten gab es antirassistische Gegenproteste, in Bristol und Leeds war die Zahl dieser Aktivisten mehr als doppelt so hoch. So schützten Aktivisten in Bristol ein Flüchtlingshotel, in Liverpool stellten sich An­ti­ras­sis­t*in­nen schützend vor eine Moschee.

Manchmal waren die Unruhestifter nur ein paar Dutzend Personen, anderorts mehrere Hunderte, oft von außerhalb angereist. Einer der meistgehörten Sprüche war: „We want our country back“ – wir wollen unser Land zurück, eine bekannte Parole aus den Zeiten des Brexit-Referendums 2016. Diesmal richtet er sich nicht gegen die EU, sondern gegen Muslime und Asylsuchende, manchmal gemeinsam mit „England, bis ich sterbe!“ Dazu zeigten manche den Hitlergruß.

Die Parolen und Gewaltaufrufe verbreiteten sich mithilfe von Tiktok, X und Telegram, auch über Channel3 Now, ein bisher kaum bekannter Kanal, der AI-bearbeitete Nachrichten über die USA und das Vereinigte Königreich in den sozialen Medien veröffentlicht, darunter Fake News zu dem Attentäter der Messerattacke am Montag. So wurde der Attentäter – ein 17-Jähriger, dessen Eltern als Flüchtlinge aus Ruanda kamen und der in Großbritannien geboren wurde – frei erfunden als muslimischer Bootsflüchtling bezeichnet. Diese Fehlinformation verbreitete laut einer Recherche der Times auch die Mitte 50-jährige Leiterin einer Bekleidungsfirma, die in einer Millionärsvilla auf dem Land wohnt und mit einem Künstler verheiratet ist. Die hatte sich während der Covid-19-Pandemie als Aktivistin gegen Impfungen einen Namen gemacht.

Ebenfalls aus dem Hintergrund in den sozialen Medien agiert Tommy Robinson, ein altbekannter Aktivist der britischen rechtsextremen Szene und Mitgründer der rechtsextremen English Defence League (EDL). Er hat erst vor einer Woche in London eine rechtsextreme Demonstration angeführt. Aufgrund eines Filmes, den er zeigte, in dem er falsche Angaben zu einem syrischen Flüchtling machte, der als Teenager Opfer eines rassistischen Angriffs gewesen war, hätte er am vergangenen Montag vor Gericht erscheinen sollen, stattdessen floh Robinson ins Ausland, von wo aus er weiter postete.

Die neue britische Labour-Innenministerin Yvette Cooper konnte mit den Worten, dieses rüpelhafte Benehmen der Gewalt und Unruhen, wie sie es nannte, habe keinen Platz auf den Straßen, nicht sofort für Ruhe sorgen. Der Krisenstab der Regierung traf sich am Samstag, um weitere Maßnahmen zu besprechen. Dazu gehört eine Aufstockung der in Bereitschaft stehenden Staatsanwälte um 70 Personen, Tag und Nacht arbeitende Sondergerichte und mehr Unterbringungsmöglichkeiten in britischen Strafanstalten. 130 zusätzliche Si­cher­heits­einheiten wurden inzwischen in den Bereitschaftsdienst gestellt.

Dutzende Personen wurden bereits am Freitag und Samstag von der Polizei festgenommen, am Samstag allein 100 Personen. Die harten Maßnahmen erinnern an die Aufstände in zahlreichen britischen Städten im Sommer 2011 nach einem tödlichen Polizeischuss im Londoner Stadtteil Tottenham, als erstmals Gerichte rund um die Uhr Plünderer und Randalierer in Schnellverfahren zu teils harten Haftstrafen verurteilten. Das war ein Härtetest für die damals neue konservative Regierung – aber der Generalstaatsanwalt, der damals die Verfahren vor Gericht verantwortete, hieß Keir Starmer, der heutige Labour-Premierminister.

Die konservative Opposition nutzt die Ausschreitungen zur Profilierung

Die konservative Opposition nutzt die Krise zur Profilierung. Labour habe seinerzeit gegen Verschärfungen der Polizeibefugnisse gestimmt, sagte Ex-Innenminister James Cleverly, dessen Familie aus Sierra Leone stammt. Die nigerianischstämmige Kemi Badenoch, die sich wie Cleverly um die Nachfolge Rishi Sunaks für die konservative Parteispitze bewirbt, ließ sich über Integrationsprobleme von Ein­wan­de­r:­in­nen aus. Der ehemalige Migrationsminister Robert Jenrick, ebenfalls Kandidat um Sunaks Nachfolge, veröffentlichte ein Wahlkampfvideo mit einem afghanischen Flüchtling, der im Januar mit Säure eine Frau schwer verletzt hatte, sich dabei selber verätzte und danach Suizid mit einem Sprung in die Themse beging. Immerhin forderte Jenrick später, die EDL als Terrororganisation zu verbieten.

Geradezu bestätigt fühlt sich die rechtspopulistische Partei Reform UK von Nigel Farage. Labour sei selbst schuld, lautet deren Botschaft. Reform UK erinnerte daran, dass die heutige Labour-Finanzministerin Rachel Reeves 2016 Aufstände vorhergesagt habe für den Fall, dass die Einwanderung nach Großbritannien nicht gebremst werde. Im rechten TV-Sender GB News sagt der Gewerkschafter Paul Embery, dass zwar einige der Übeltäter rechtsextrem seien, aber es sich vor allem um eine Rebellion der Arbeiterklasse handle. Die Botschaft der Rechtspopulisten: Hier ist sie also, die Revolte, von der Nigel Farage vor der Wahl vom 4. Juli sprach.

Aber eines kann niemand mehr im Vereinigten Königreich tun: mit dem Finger auf Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Dänemark, Ungarn oder Italien zeigen und behaupten, dass Rechtsextremismus nur auf der anderen Seite des Ärmelkanals ein Problem sei. Manches verbindet eben doch noch mit Europa. Und das, während schwarze Ath­le­t:in­nen gerade für „Team GB“ in Paris Medaillen ernten und sich in den Union Jack hüllen.