Hoffen auf die republikanische Disziplin

Mehr als 200 Kandidaten, die für die Stichwahl in Frankreich am Sonntag qualifiziert wären, ziehen sich zurück. Sie wollen damit einen Sieg der extremen Rechten verhindern

Aus Feinden werden Freunde: breite Allianz gegen einen Sieg des Rassemblement National Foto: Aurelien Morissard/ap

Aus Paris Rudolf Balmer

Man kann es Solidarität der Demokraten nennen oder auch opportunistische Schadensbegrenzung: die Abwehrfront der Linksparteien mit Zentrum- und gemäßigten Rechtsparteien gegen die extreme Rechte, die von ihnen als tödliche Gefahr für die parlamentarische Demokratie und somit als gemeinsamer Feind betrachtet und bekämpft wird. In Frankreich sind solche Wahlabsprachen unter der Bezeichnung „republikanische Disziplin“ bekannt. Sie steht vor den Stichwahlen am kommenden Sonntag für den Verzicht auf die Teilnahme an der finalen Runde.

In dieser Weise hatten 2002 – als bei den Präsidentschaftswahlen mit Jean-Marie Le Pen erstmals ein Kandidat des Front National zur Stichwahl gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac antreten konnte – die Wäh­le­r*in­nen der ausgeschiedenen Linken (fast) geschlossen gegen den Rechtsextremisten für Chirac gestimmt. Und in derselben Weise 2017 und 2022 für Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen. Aber: In diesen drei Präzedenzfällen war jeweils die Aussicht eines Siegs der extremen Rechten ziemlich gering oder fast gleich null. Trotzdem fiel es den linken Parteiführungen leicht, ihre Wahlempfehlung zu Gunsten der politischen Gegner Chirac und Macron zu geben.

Heute ist der Wahlsieg des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich. Noch am Abend der ersten Runde am vergangenen Sonntag hatten die linken Parteien des Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront) ohne zu zögern angekündigt, dass sie ihre für die Stichwahlen qualifizierten Kandidaten überall dort zu Gunsten von Macronisten, Konservativen und Zentrumsdemokraten zurückziehen, wo ein RN-Kandidat dank der Konkurrenz durch schlechter platzierte linke Gegner gewinnen könnte. In 89 von 91 betroffenen Wahlkreisen hat die Volksfront auf die Teilnahme verzichtet.

Die Konservativen von Les Républicains dagegen fühlen sich nicht zu dieser Haltung verpflichtet. Für sie gilt viel mehr die Devise „weder extrem rechts, noch links“, da sie beide Gegner als Extreme offenbar auf dieselbe Stufe stellen. Nur in zwei Situationen, wo die Linke klar bessere Chancen hat, haben sich LR-Kandidaten zurückgezogen.

Präsident Emmanuel Macron hatte sich zum Fiasko, das ihm die vorzeitigen Neuwahlen beschert hatten, zunächst nicht geäußert. Und das, obwohl in Frankreich immer noch alle wissen wollten, was er mit seiner abrupten Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen, eigentlich bezweckt hatte. Angesichts der Aussicht, dass aufgrund der Ergebnisse am letzten Sonntag die extreme Rechte jetzt sogar eine absolute Mehrheit erreichen könnte, rang er sich dann aber doch zu einer kurzen Erklärung durch. Macron drückte den Wunsch aus, dass eine breite nationale Einheit der wirklich demokratischen Kräfte der Republik zu Stande kommen müsse. Doch wer sollte mit wem zusammenkommen? Das konkretisierte der Präsident nicht.

„Von Fall zu Fall“ wollten prominente Macronisten wie der frühere Premierminister Édouard Philippe diese Sache regeln. Er selbst unterstützt in seinem Wahlkreis gegen die RN-Kandidatur einen Kommunisten in der Stichwahl. Andere wie der noch amtierende Regierungschef Gabriel Attal waren eher dafür, bei den Wahlabsprachen zugunsten von Linken nicht zwischen Sozialisten, Kommunisten, Grünen und vor allem La France insoumise (LFI) zu unterscheiden.

Vor allem die Vorstellung, eigene Kandidaturen im Interesse der linken Partei LFI zurückziehen zu müssen, die von rechts und auch in der politischen Mitte sowie von Sozialdemokraten als „linksextrem“ bezeichnet wird, bereitete den Macronisten sichtlich Magenschmerzen. Am Ende haben sie sich doch in mehreren Fällen dazu durchgerungen und nur in 4 Wahlkreisen ihre Kandidaturen aufrechterhalten. Sie hoffen damit, den beim Vormarsch der extremen Rechten absehbaren Schaden in Grenzen zu halten.

Präsident Macron setzt auf breite nationale Einheit der demokratischen Kräfte

Dank diesem „disziplinierten“ Verzicht ergeben sich nun nur noch 92 statt ursprünglich 299 Dreieckwahlen (mit drei Finalisten) und noch 2 statt 5 Vierecke (mit vier Bewerbern). Diese veränderte Wahlgeometrie in Frankreich hat zur Folge, dass die Aussichten des RN, eine absolute Mehrheit zu erhalten, bedeutend kleiner werden.

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