: Mühsame Harmonie
Auf dem Parteitag der AfD werden interne Machtkämpfe durch Disziplin verhindert, doch unter der Oberfläche gärt der Streit zwischen Parteispitze und Flügel noch immer. Freien Lauf lassen Delegierte jeder Art von völkischem Ressentiment
Aus Essen Gareth Joswig
Tino Chrupalla wirft vom Rednerpult Kusshände in Richtung Alice Weidel, der Parteitag johlt. Gerade hat der frisch wiedergewählte AfD-Bundesvorsitzende sich im Überschwang verhaspelt, hatte beim Wahlvorschlag für die andere Hälfte seiner Doppelspitze Alice Weidel gesagt: „Ja, ich möchte natürlich auch hier meine geliebte …“. Der Satz blieb unvollendet, wie so oft bei Chrupalla. Seine Gesichtszüge entgleisten kurz – doch Gelächter und Gejohle der Parteitagsdelegierten sorgen dafür, dass er lässig mit dem Lapsus umgeht. „…ich bin doch noch gar nicht fertig“, sagt er, „… meine geliebte Co-Sprecherin vorschlagen: ich schlage Alice Weidel vor“, so Chrupalla grinsend.
Beim 15. Bundesparteitag der AfD in der Grugahalle in Essen demonstrierten am Wochenende nach Angaben der Veranstalter über 70.000 Menschen gegen die extrem rechte Partei – so viele Menschen wie noch nie gegen einen Parteitag demonstrierten. Der Ort ist dabei auch für die Geschichte der AfD schicksalhaft: Hier putschte die völkische Strömung 2015 einst den Parteigründer Bernd Lucke weg und ebnete damit den Weg für die ungebrochene Radikalisierung der Partei. Lucke war stets dagegen, Nationalismus zu stark zu betonen.
2024 nimmt Tino Chrupalla inmitten von zehn riesigen Deutschlandfahnen auf der Bühne seine Wiederwahl zum Bundessprecher an. Das überschießende Adrenalin war ihm deutlich anzumerken. Er sei „ein Stück weit überwältigt“, sagte Chrupalla.
Aufgekratzt war er auch deshalb, weil er wie die meisten Delegierten kaum damit gerechnet hatte, bei seiner Wiederwahl ein so hohes Ergebnis zu erzielen. Bei der letzten Bundesvorstandswahl 2021 war der Malermeister aus Sachsen nur denkbar knapp auf 53 Prozent bekommen. Hier in der Grugahalle von Essen sind es 82,7 Prozent.
Die AfD wollte in Essen Harmonie zur Schau stellen. Konflikte, großer Krach, Selbstzerfleischung, wie man sie sonst von der Partei kennt, die der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland mal als „gärigen Haufen“ bezeichnete, fielen während der Bundesvorstandswahlen aus. Folgerichtig gab Alice Weidel in ihrer Bewerbungsrede die Luftküsse an ihren „geliebten Tino“ zurück: „Ich habe eigentlich auf deinen Antrag gewartet“, witzelte sie. Beide bekamen nach ihren Reden Standing Ovations, die allerdings eher pflichtschuldig als euphorisch ausfielen, einige Delegierte blieben auch mit verschränkten Armen sitzen.
Der Ablauf erinnerte schon fast an die verhasste CDU: Es gab keine Gegenkandidaten und keine Fragen im Anschluss ihrer Bewerbungsreden. Die Partei hielt sich auch bei der Wahl des restlichen Bundesvorstands recht strikt an eine vorher ausgekungelte Liste. Für AfD-Verhältnisse war die Bundesvorstandswahl damit eher langweilig, fast schon altparteienhaft. In Rekordzeit war am Samstag der neue Bundesvorstand komplett: Er besteht aus 13 Männern und einer Frau und ist eine Zementierung des Radikalkurses der Fundamentalopposition.
Ein Schönheitsfehler bei der Harmonieinszenierung war allerdings das Ergebnis von Alice Weidel. Eigentlich gilt sie als die designierte Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl 2025, weil sie an der Basis deutlich beliebter ist als der rhetorisch unbegabtere Chrupalla. Aber: In Essen bei den 600 AfD-Delegierten hat die als faul und opportunistisch geltende Weidel es schwerer als an der Basis. Sie kam zwar mit 79,8 Prozent auch auf ein gutes Ergebnis, landete aber überraschend hinter Chrupalla.
Weidel wirkte danach indigniert, reagierte später patzig, als sie zusammen mit dem restlichen Bundesvorstand vor die Presse trat. Darauf angesprochen, was Chrupallas Überholmanöver für die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl 2025 bedeuten würde, fragte sie höhnisch: „Sie meinen die fünf Stimmen?“ Chrupalla, direkt daneben, schaute betreten drein. Von Liebe war da jedenfalls nichts mehr zu spüren.
Das zeigte: Die Harmonie ist nur aufgesetzt. Konflikte existieren weiter, wurden aber nicht auf der Parteibühne zur Aufführung gebracht. Für Disziplin sorgten vor allem die für die AfD enorm wichtigen anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo die Partei in den Umfragen stärkste Kraft ist, aber dennoch keine Regierungsoptionen hat. Der Rechtsextremist Björn Höcke und Kopf der völkisch-nationalistischen Strömung musste stillhalten, was ihm sichtlich schwerfiel: Er saß für ihn missliebige Personalien und Entscheidungen aus und malmte dabei unruhig mit dem Kiefer.
Die bei der Vorstandswahl geschlossenen Reihen sind vor allem ein Verdienst der professionalisierten radikalen Netzwerke der Partei. Die Abstimmungen waren so etwas wie eine Nagelprobe für den Kreis um den Bundestagsabgeordneten Sebastian Münzenmaier, der maßgeblich die Strippen hinter den Kulissen zog und die Liste auskungelte.
Die jungen Karrieristen stehen dem völkischen Flügel in Sachen Radikalität in nichts nach, sind aber nicht nur im Osten gut verdrahtet, sondern auch mit den Länderchefs im Westen, die nach außen hin lieber ein moderateres Bild abgeben wollen und zuletzt etwa gegen den Rechtsextremisten Matthias Helferich ein Parteiausschlussverfahren beantragten. Das war auch ein Affront gegen Höcke, aber so kurz vor der Thüringen-Wahl hielt sein Lager still.
Aber auch wenn es keinen Aufstand der Völkischen gab, ging es nicht gerade gemäßigt zu: Bereits die Bewerbungsrede des ersten Stellvertreters im Bundesvorstand, Stephan Brandner, aus dem von Höcke dominierten Landesverband Thüringen machte klar, was auf dem Spiel steht: Ähnlich wie Höcke vor ein paar Tagen bei seinem Gerichtsprozess, wo er wegen einer SA-Parole angeklagt ist, forderte Brandner eine Säuberung und einen Umbau der Justiz: „Macht die Stimmzettel zu Haftbefehlen!“, rief er. Es brauche eine „Entpolitisierung der Justiz“. Man müsse diejenigen, die unser Land heruntergewirtschaftet hätten, „vor Gericht stellen“. Er bekam 90,1 Prozent.
Und auch die Bundesvorsitzenden gaben sich in Sachen Radikalität keine Blöße: Weidel drückte sicher die rechten Triggerpunkte der AfD-Delegierten an. Sie verglich die Bundesrepublik Deutschland mit der realsozialistischen DDR, forderte mit Blick auf die Landtagswahlen diktaturverharmlosend ein „zweites 1989“, sprach mit Blick auf die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen von „Merkels Willkommensputsch 2015“, wiederholte den rassistischen Sarrazin-Klassiker „Deutschland schafft sich ab!“ und forderte eine „Migrationswende“, also Abschiebungen. Ampelminister sollten an die Front und die Bundesregierung auch „endlich“ abhauen: „Packt die Koffer!“, rief sie. So weit, so undemokratisch.
Den verkorksten EU-Wahlkampf redete sie schön, sprach aber auch mit schiefen Fußballmetaphern die parteiinterne Kritik an: Parteiarbeit sei Mannschaftssport, manchmal müsse man jemanden vom Feld nehmen. Die Worte richteten sich an Maximilian Krah und bezogen sich auch auf den viel kritisierten Umgang der Parteispitze mit ihm. Denn nach dem Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion im EU-Parlament wegen SS-Verharmlosung, Korruptions- und Spionageskandal durfte Krah nicht Teil der AfD-Delegation in Brüssel werden, was heftige Grabenkämpfen im völkischen Flügel zur Folge hatte.
Weidel sagte mit Blick auf Krah: „Auch talentierte Spieler können sich verrennen.“ Aber sie räumte ein: „Wenn jemand auf die Ersatzbank muss, ist er noch nicht aus dem Kader.“ Sie zeigte also für Krah einen Weg zurück in eine mögliche, neu zu bildende AfD-Fraktion im EU-Parlament auf. Dafür öffnete sich am Sonntag möglicherweise ein Türchen: Nachdem Orbáns Fidesz und die FPÖ angekündigt hatten, eine neue Fraktion im EU-Parlament zu gründen, würde sich die AfD auch gerne anschließen. AfD-Delegationsleiter René Aust nannte das am Rande des Parteitags die „Ideallösung“. Krah selbst war beim Parteitag übrigens nicht vor Ort, was wohl auch dem Frieden dienlich sein sollte.
In Folge blieben KritikerInnen auch stumm. Kurzfristige Absprachen vor dem Parteitag sorgten dafür, dass ein Solidaritätsantrag für Maximilian Krah vom Landesverband Bayern gleich kurz nach Beginn am Samstagmorgen zurückgezogen wurde. Der Antrag war ein klarer Angriff auf die Parteiführung im Vorfeld des Parteitags und hatte innerparteiliche Kritik angeheizt. Ein wichtiger Streitpunkt war damit direkt aus der Öffentlichkeit geräumt.
Chrupalla spielte in seiner Bewerbungsrede zwar seine Karte als biederer Malermeister aus, forderte aber auch „Widerstand gegen Massenzuwanderung“ und kündigte mit einem Höcke-Zitat an, das „Land vom Kopf auf die Füße stellen“ zu wollen. Er schoss in seiner Rede auch in Richtung der strittigen EU-Kandidaten Krah und Bystron, kritisierte „unvorsichtiges und unprofessionelles Verhalten“: „Manche haben unnötig Angriffsfläche geboten.“ Man müsse die Kandidaten künftig besser ansehen, forderte er. Dabei waren Krahs dubiose Russland- und China-Connections sowie seine geschichtsrevisionistischen Positionen auch schon vor seiner Aufstellung hinlänglich bekannt. Das war es dann aber auch mit Selbstkritik.
Der rassistisch-rechtsradikale Markenkern der AfD ließ sich nicht nur aus den Reden ableiten. Auf dem Laptop eines Delegierten klebte beispielsweise ein Sammelsurium rechtsextremer Sticker. Neben dem zynischen Spruch „Black Knives Matter“ war dort auch eine Anspielung auf den von rechts instrumentalisierten Gigi-D’Agostino-Song zu lesen: „Döp dödö döp“, stand da neben AfD-Fanaufklebern, es ist eine Anspielung auf die Parole „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“. Einige Delegierte kamen in T-Shirts mit der Aufschrift „Volle Solidarität mit Maximilian Krah“.
An den Ständen der Jugendorganisation Junge Alternative gab es ähnliche Fan-Artikel zu Krah und Sylt, ebenso wurden dort Aufkleberpakete mit dem Stichwort „Remigration“ verkauft sowie die Bücher des rechtsextremen Antaios-Verlags von Götz Kubitschek, bei dem Rechtsextremisten wie Martin Sellner ihre rassistischen Revolutionsanleitungen veröffentlicht haben.
Andere trugen ein von Höcke signiertes Fake-Deutschland-Trikot in eigenem Design, weil sie das pinkfarbene Auswärtstrikot der Nationalmannschaft ablehnen. Denn obwohl die AfD am Samstag vorzeitig den Parteitag nach der Vorstandswahl beendete – auch um das EM-Achtelfinale der DFB-Mannschaft zu sehen –, lehnen viele in der AfD die Nationalmannschaft wegen zu vieler Spieler mit Migrationshintergrund ab.
Höcke selbst teilte am Samstagnachmittag auf seinem Telegram-Kanal einen Beitrag in einem rechtsradikalen Medium, in dem er schreibt, dass er seit über zehn Jahren kein Spiel der Nationalmannschaft mehr gesehen habe, und kritisierte bei der aktuellen Mannschaft „Vielfalt statt Vaterland“, Krah hatte die aktuelle Nationalmannschaft kürzlich eine „politisch korrekte Söldnertruppe“ genannt.
Immerhin am Sonntag fand die AfD dann zur alten Form zurück: Viel Streit gab es um die Bundesschiedsrichter sowie um die von Weidel geforderte Abschaffung von Mitgliederparteitagen, was ein weiterer Schritt in Richtung Professionalisierung gewesen wäre. Der Antrag scheiterte nach langen Gegenreden und Rednerlisten. Und auch ein Antrag, der unabgesprochene Auslandsreisen künftig unterbinden soll, scheiterte. AfD-Politiker können also wie in der Vergangenheit weiter autoritäre Regime wie Russland besuchen.
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