Marie Frank über die Demos zum 1. Mai
: Gekapert und fremdbestimmt

Man hätte die traditionelle Revolutionäre 1.-Mai Demonstration in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln in diesem Jahr auch für eine riesige Pro-Palästina-Demo halten können: In allen Blöcken des rund 15.000 Menschen umfassenden Demonstrationszugs wurden Freiheit für Palästina und ein Ende des Kriegs in Nahost gefordert.

Im Gegensatz zu vergangenen Demos waren im Frontblock jedoch weder Palästinafahnen zu sehen noch war dort die verbotene Parole „From the River to the Sea“ zu hören. Stattdessen wurde ein altbekannter Slogan wieder rausgekramt: „Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt“ war eine häufig gerufene Parole, mit der die De­mons­tran­t*in­nen einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel forderten.

Die Polizei hielt sich entsprechend auffällig zurück. Wie schon bei der anarchistischen Walpurgisnachtdemo am Vorabend hielten die Tausenden Einsatzkräfte großen Abstand und griffen nicht, wie bei den jüngsten propalästinensischen Protesten, willkürlich Ak­ti­vis­t*in­nen an, die eine Palästinaflagge und/oder Kufija trugen – was außer im Frontblock ungefähr je­de*r zweite Teil­neh­me­r*in tat. Sowohl bei der Walpurgisnacht als auch bei der 18-Uhr-Demo passierte das Erwartbare: Ohne die Provokation der Polizei blieb es friedlich. Auch in anderen Städten blieb es – mit Ausnahme von Stuttgart – weitgehend ruhig.

Und so erreichte die Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration in Berlin zum ersten Mal seit vielen Jahren unbehelligt ihr Ziel. Und es kam auch nicht wie sonst zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen De­mons­tran­t*in­nen und Beamt*innen. Davon schienen am Ende auch die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen überrascht zu sein: Die größtenteils kommunistischen Gruppen wirkten geradezu ratlos ob dieser Friedlichkeit. Ein Konzept, was in diesem unwahrscheinlichen Fall zu tun sei, war nicht zu erkennen.

Das offenbart ein grundlegendes Problem: Ohne die Fremdbestimmung durch die Polizei und die damit verbundenen Ausschreitungen treten die Inhalte stärker in den Vordergrund. Und die waren außer dem Nahostkonflikt kaum vorhanden. Die drängenden Probleme, die Berlin und andere Städte darüber hinaus bewegen – Mietenwahnsinn, Klimapolitik, Rechtsruck, Abbau des Sozialstaats oder soziale Spaltung – kamen so gut wie nicht vor. Und das, obwohl es bei der „Revolutionären“ 1.-Mai -De­mon­stration eigentlich um Klassenkampf geht.

Doch schon seit mehreren Jahren ist zu beobachten, dass sich viele große linke und linksradikale Gruppen aus der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration heraushalten. Auch deshalb fiel sie in diesem Jahr wohl noch einmal etwas kleiner aus als in den Vorjahren. Das hat auch mit dem Nahostkonflikt zu tun, der die Szene spaltet und andere Themen verdrängt. Zunehmend zur Folklore geworden, hat sie dadurch an Anziehungskraft für progressive Teile der Linken verloren. Angesichts des Wiedererstarkens autoritär-linker Gruppen, die in ihrem dogmatischen Antiimperialismus nicht vor einer Verherrlichung der Hamas als revolutionärer Kraft zurückschrecken, ziehen sich viele undogmatisch-autonome Ak­ti­vis­t*in­nen zurück. Besonders sichtbar wurde das in diesem Jahr, wo zum ersten Mal kein dezidiert Schwarzer Block mehr vertreten war.

Damit ist die 1.-Mai-Demonstration in Berlin ein Spiegel der linken Szene: Spaltung geht über Diskurs, man bekämpft sich lieber untereinander als den gemeinsamen Feind: Staat und Kapital. Das ist auch sehr viel einfacher, als für eine bessere Welt zu kämpfen. Jedoch birgt die Einigelung in der eigenen Blase diverse Gefahren: Dogmatismus wird befördert, Differenzierung ist nicht mehr möglich. Wer sich nur mit sich selbst und nicht mit wichtigen politischen Diskursen beschäftigt, verfällt in Identitätspolitik, die jeglichen Anspruch auf eine solidarische Gesellschaft aufgegeben hat und das übergeordnete Ziel – die Überwindung der kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen Ausbeutungsverhältnisse – vergisst.

Wer anderer Meinung ist und solidarische Kritik übt, wird ausgeschlossen und angefeindet – statt die eigene Position zu reflektieren, andere Positionen anzuerkennen und darüber zu diskutieren. Wenn jedoch Geg­ne­r*in­nen zu Fein­d*in­nen werden und eine politische Auseinandersetzung nicht mehr möglich ist, steht am Ende nur die Vernichtung des Feindes. Und der besteht dann nicht länger in den ausbeuterischen Strukturen, die zerschlagen werden müssen, sondern steht im eigenen Lager. Die lachenden Dritten sind die Pro­fi­teu­r*in­nen des Status quo. Denn wie hieß es so schön im feministischen Block? „Was macht den Bonzen Dampf? Klassenkampf, Klassenkampf!“ Doch davon ist die Linke, nicht nur in Berlin, sehr weit entfernt.

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