Neue Perspektiven auf Nofretete: Alle wollten dazugehören
Der Historiker Sebastian Conrad zeichnet im Buch „Die Königin“ die Karriere der berühmtesten Repräsentantin antiker Hochkultur nach: Nofretete.
Ganz gleich, in welchem ägyptischen Souvenirladen man sich umschaut. Ob bei den Pyramiden in Kairo, dem Tempel von Abu Simbel oder im Tal der Könige bei Luxor, überall blickt einem ein Gesicht entgegen. Untrennbar ist es mit diesen Orten verbunden: die Büste der Nofretete. Eine Ikone des Alten Ägyptens.
Doch wer das Original sehen will, muss Tausende Kilometer nach Norden reisen. Es befindet sich in Berlin auf der Museumsinsel. Dort steht sie als einziges Exponat im Nordkuppelsaal des Neuen Museums. Nirgends ist die Nofretete weiter weg, als dort, wo sie eigentlich hingehört.
Wie kam es dazu? Davon erzählt das Buch „Die Königin. Nofretetes globale Karriere“ von Sebastian Conrad, Historiker an der Freien Universität Berlin. Und nicht nur davon. Denn die Nofretete ist viel mehr als nur Souvenir oder Museumsstück. Vor hundert Jahren wurde sie in Berlin erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Eine Sensation.
Beispiellose Karriere
Seitdem hat sie eine beispiellose Karriere als weltweite Ikone hingelegt. Über alle sozialen, politischen und weltanschaulichen Schranken hinweg. Westliche Bildungsbürger bewundern ihre kultivierte Noblesse, Feministinnen ihren Machtanspruch.
Für afroamerikanische Intellektuelle symbolisiert sie Afrika als Ursprung der Zivilisation, für ägyptische Nationalisten die Einmaligkeit ihres Staats. Amnesty International nutzt ihre Züge für den Protest gegen Menschenrechtsverletzungen, Popstars wie Beyoncé oder Rihanna sehen in ihr ein Symbol für Black Power.
Nofretete „wurde nicht einfach ausgegraben: Sie wurde gemacht“, schreibt Conrad. Die Hintergründe ihrer zahlreichen Aneignungen zeichnet er in seinem Buch nach. Und die historischen und zeitgenössischen Diskurse, die daran ablesbar sind. Ein ebenso lehrreiches wie unterhaltsames Unterfangen. Das viel über die Widersprüche der Zeit erzählt, in der wir leben.
Ursprung der Moderne
Dass die Nofretete überhaupt zur globalen Ikone wurde, verdankt sie laut Conrad einer im 20. Jahrhundert dominierenden Erzählung: Die Vorgeschichte Europas führt danach in direkter Linie über das antike Rom und Griechenland zu den Ägyptern. Ägyptische Kultur wurde so zum Ursprung der europäischen Moderne und damit zum Symbol für Fortschritt und Überlegenheit.
Und alle wollten dazu gehören. Mexikanische Intellektuelle sahen in der Ähnlichkeit zu aztekischen Pyramidenbauten den Beweis für eine direkte Verbindung zur ägyptischen Kultur. Für die Chinesen waren es die Überschneidungen in den Hieroglyphen ihrer Schriftkultur. In Indien wurde behauptet, dass „die alten Hindus und die alten Ägypter ein und dasselbe Volk sind“.
In Brasilien wurde sofort nach der Unabhängigkeitserklärung 1822 ein Museum mit altägyptischen Artefakten errichtet. Und mittendrin in der Ägypten-Euphorie: Nofretete. Die berühmteste Repräsentantin der antiken Hochkultur, mit der sich alle schmücken wollten.
Statt einer nun viele Erzählungen
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich diese kulturelle Ordnung, wie Conrad sagt, grundlegend verändert. Die europäischen Kolonialreiche sind Geschichte und die mit ihnen einhergehende Deutungshoheit wenn auch nicht ganz verschwunden, so auf jeden Fall stark abgeschwächt. An die Stelle der einen westlichen Moderne ist eine Vielzahl moderner Gesellschaftsentwürfe getreten. Statt einer Erzählung, gibt es viele. Auch über die Nofretete.
Wäre es nicht spätestens jetzt an der Zeit, auch die lokale Ordnung zu ändern? Sprich die Nofretete wieder dorthin zurückzubringen, wo sie hingehört, nach Ägypten? Doch die Stiftung Preußischer Kulturbesitz beharrt auf dem alten Teilungsvertrag, der zum Zeitpunkt der Entdeckung von Nofretete galt: Die Grabungsexpedition, die zur Entdeckung der Büste führte, wurde von Deutschland organisiert und finanziert.
Sebastian Conrad: „Die Königin. Nofretetes globale Karriere“. Propyläen Verlag, Berlin 2024, 384 Seiten, 29 Euro
Deshalb ging nach damaligem Recht die Hälfte der Funde an Deutschland, die andere Hälfte verblieb in Ägypten. Conrad betont in seinem Buch, dass dieser Vertrag unter imperialistischen Machtverhältnissen geschlossen wurde. Aus heutiger Sicht sei er nicht mehr haltbar. Zudem gibt es Spekulationen, dass die Ägypter bewusst getäuscht worden seien. So soll der damalige deutsche Expeditionsleiter Ludwig Borchardt die Statue mit Dreck beschmiert oder sogar versteckt haben, um sie nicht abgeben zu müssen.
Wäre die Nofretete einige Jahre später entdeckt worden, wäre sie höchstwahrscheinlich in Ägypten geblieben, schreibt Conrad. Aber dann, auch das einer dieser Widersprüche unserer Zeit, hätte sie vielleicht nie diese spektakuläre globale Karriere erlebt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld