piwik no script img

Dystopie-Roman „Doktor Garin“Russland ist zerfallen

In Vladimir Sorokins „Doktor Garin“ ist der Krieg zum Alltag in Europa geworden. Der Roman ist ein drastisches Sinnbild für das heutige Russland.

Heldenreise ohne Held oder Mission Foto: Mikhail Tereshchenko/imago

In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ist Russland zerfallen und Krieg in Europa zum Alltag geworden. Die Zeit der großen Ideen ist vorbei, die Menschen leben in kleinen Gruppen mit ihren eigenen Regeln, Gesetzen und Wahrheiten und man sorgt vor allem für sich selbst.

In dieser postutopischen Welt, die der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin schon in Romanen wie „Telluria“ als Zukunftsvision beschrieben hat, vermengen sich Hochtechnologie mit dem Geist des Mittelalters und neoliberaler Egoismus mit autoritärer Gewalt.

In „Doktor Garin“, Sorokins neuem Roman, ist außerdem der Atomkrieg Thema. Während dieser in Literatur und Popkultur meist als alles vernichtende Katastrophe behandelt wird, die eine postapokalyptische Welt mit nur wenigen Überlebenden hinterlässt, beschreibt Sorokin Atombombenexplosionen als Teil des Alltags.

Lästig zwar, aber wirklich beeindrucken tun sie niemanden, man lebt einfach weiter sein Leben, zur Not eben an einem anderen Ort. „Der Atompilz ist mittlerweile Teil der Landschaft geworden“, heißt es an einer Stelle. Ein so erschreckendes wie passendes Bild für eine Gegenwart, in der eine Katastrophenmeldung die nächste jagt und man ja trotzdem irgendwie weitermachen muss.

Verwandelter Garin

Vladimir Sorokin Roman

Vladimir Sorokin: „Doktor Garin“. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 592 Seiten, 26 Euro

Doktor Garin kennt man bereits aus Sorokins Roman „Der Schneesturm“, in dem der Protagonist als junger Landarzt die Menschen in einem abgelegenen Dorf mittels Impfung davor bewahren wollte, zu Zombies zu werden. Mit dem Idealisten von damals hat der neue Garin allerdings wenig gemein, er ist ein anderer geworden, wie er selbst sagt. Und so braucht man auch den „Schneesturm“ nicht zu kennen, um die Handlung von „Doktor Garin“ zu verstehen.

Garin ist mittlerweile Anfang 50 und Chefarzt eines angesehenen Sanatoriums in den Zedernwäldern des Altai-Gebirges. Er trägt einen goldenen Kneifer, liebt die anspruchsvollen Genüsse eines gebildeten Mannes und behandelt seine gutbetuchten Patienten mit Gesprächstherapie, Heilschlamm und Tannennadelbädern.

Aber auch Furzwettbewerbe und anale Elektroschockbehandlung gehören zum Programm des Sanatoriums, bei dessen Beschreibung Sorokin nicht nur den pseudointellektuellen Habitus Garins gekonnt parodiert, sondern auch eine gute Portion Fäkalhumor zum Einsatz kommen lässt.

Genmanipulierte Wesen

So treten als Patienten genmanipulierte Wesen in Form von riesigen Hinterteilen mit Mund, Augen und Armen auf. Bei ihnen handelt es sich um die „Ex-Staatsärsche“ Angela, Boris, Donald, Emmanuel, Justin, Shinzo, Silvio und Wladimir. Die Figuren sind so alberne wie treffende Karikaturen der realen Vorbilder. Donald vermengt zum Abendessen Chicken Wings, Softeis und Coca-Cola zu einem Brei und Wladimir kann nur einen einzigen Satz sagen: „Ich war’s nicht.“

Das Sanatorium wird aus seinem beschaulich-neurotischen Leben gerissen, als die kasachischen Streitkräfte mal wieder eine Atombombe auf das Gebiet der Republik Altai abwerfen – diesmal ganz in der Nähe der Heilanstalt. Personal und Patienten machen sich auf den Weg durch die Wälder, um in die nächstgrößere Stadt zu kommen, und begegnen unterwegs Menschen mit den verschiedensten Lebensentwürfen.

Etwa einer patriarchal organisierten Handwerkerdynastie, Drogenhändlern, die ihre Ware mit Drohnen liefern und einer Gruppe Anarchist*innen, die Bakunin und Kropotkin verehren und in einem eingezäunten Lager mit Stacheldraht und Wachtürmen leben, „um die Reinheit der anarchistischen Idee vor äußeren Gräueln zu beschützen“, und einem Grafen, der ein Anwesen im Stil des 19. Jahrhunderts bewohnt und Angst vor Mobilfunkstrahlung hat.

Odyssee im Bademantel

Kaum in der Stadt angekommen, wird Garin während eines Besuchs des örtlichen Wellnessbades von den anderen getrennt. Die Stadt wird beschossen und Garin kann sich, nur mit seinem Bademantel bekleidet, gerade so aus dem einstürzenden Gebäude retten. Nun beginnt seine eigentliche Odyssee, die ihn durch die weite Wald- und Sumpflandschaft Sibiriens führt und während der er allerhand seltsamen Gestalten begegnet.

„Zottelorks“ zum Beispiel, Nachkommen eines missglückten sowjetischen Experiments mit dem Ziel, Supersoldaten zu züchten. Sie leben in einfachen Siedlungen im Sumpf und verehren Smartphones als kultische Objekte. Garin übergibt sich bereitwillig seinem Schicksal und lässt sich treiben – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne: Einen großen Teil seiner Reise verbringt er im Fluss Ob treibend. „Ich bin auf dem richtigen Weg, der Fluss wird mich führen …“, philosophiert er.

Die verschiedenen Lebensweisen, mit denen Garin unterwegs konfrontiert wird, sind Gesellschaftsentwürfe in Miniaturform, verzerrte Spiegelbilder vergangener Epochen und Ideologien, keine von ihnen besonders friedlich oder demokratisch. Sorokin zeigt, wie häufig in seinem Werk, die Wiederkehr der Vergangenheit als Farce, hält dem Traditionalismus, wie er in Putins Russland und weltweit in der neuen Rechten auf dem Vormarsch ist, den Spiegel vor.

Groteske Kerker-Variante

Das tut er nicht nur in ­Garins Geschichte selbst, sondern auch in Einschüben: Texte aus zufällig unterwegs gefundenen Büchern oder Schilderungen von Träumen und Drogentrips des Protagonisten. In diesen Texten findet sich etwa eine groteske Kerker-Variante des Höhlengleichnisses oder eine Parodie sowjetischer Propagandaliteratur („Über dem bedeutendsten Platz des Landes explodierte die Sonne der sowjetischen Wahrheit gleich einer Wasserstoffbombe der Freude“).

Die sprachlichen Experimente und Stilimitationen, die sich in diesen Einschüben finden – und die die Übersetzerin Dorothea Trottenberg einmal mehr gekonnt ins Deutsche übertragen hat –, erinnern an frühere Romane und Erzählungen Sorokins, die vollständig als solche postmodernen Experimente angelegt sind. „Doktor Garin“ ist dagegen recht konventionell erzählt, dem Roman fehlt die Radikalität und Doppelbödigkeit früherer Werke.

Dennoch zeigt Sorokin auch in diesem Buch, warum er als bedeutendster russischer Gegenwartsautor gilt. Neben urkomischen, absurden Szenen und irritierender Groteske beherrscht er vor allem eines: in die Idylle unvermittelt das Grauen einbrechen zu lassen. Wie er zu Beginn des Romans die Beschreibung des Sonnenaufgangs über den Zedernwäldern in die Beschreibung der zerstörerischen Wolke der Atomexplosion übergehen lässt, ist meisterhaft.

Das Grauen ignorieren

Was aber, wenn wir das Grauen einfach ignorieren, egal wie offensichtlich es ist, und weiter so tun, als würden wir in der Idylle leben? Doktor Garin verkörpert diese so ignorante wie privilegierte Haltung. Mit seiner passiven „Wird schon werden“-Einstellung, seinem Schwimmen mit dem Strom und dem Hinnehmen von Missständen ist Garin erfolgreich.

Er kann am Ende ziemlich genau dort weitermachen, wo er aufgehört hat: Gemütlich rauchend, von Büchern umgeben in seinem Sprechzimmer sitzend. Seine Odyssee ist eine Heldenreise ohne Held oder Mission, er lernt unterwegs nichts über sich oder die Welt. Als Identifikationsfigur taugt Garin somit nicht, er bleibt so hohl und emotionslos wie die Sprichwörter und Kalendersprüche, die er ständig von sich gibt („Ist der Blutkreislauf gesund, läuft es auch im Leben rund“).

„Doktor Garin“ ist bereits 2021 in Russland erschienen, nimmt aber bereits ein Phänomen in den Blick, das sich auf die Passivität in großen Teilen der russischen Bevölkerung angesichts von Kriegsverbrechen und politischen Repressionen beziehen lässt. Denn die Figur Garin verkörpert etwas, das oft als „typisch russisch“ bezeichnet wird: Awos.

Der kaum zu übersetzende Begriff steht grob für den Glauben daran, dass schon alles irgendwie werden wird. Bis dahin werden Probleme eher ignoriert und Leid hingenommen, anstatt etwas dagegen zu unternehmen. Man richtet sich so gut es geht in widrigen Umständen ein, mit der Zuversicht, dass Gott oder das Glück es schon regeln werden.

Man kann das Resilienz nennen und es mag eine nachvollziehbare Haltung sein angesichts politischer Umstände, in denen jeder kleinste Protest hart bestraft wird. Aber man kann es auch Fatalismus nennen, Ignoranz, Abwesenheit von Empathie, Mitläufertum. Das, was Unrecht am Leben hält.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!