Shincheonji-Sekte aus Südkorea in Berlin: Ein Unsterblicher und seine Anhänger
Seit 20 Jahren missioniert die südkoreanische Sekte „Shincheonji“ in Berlin – meist unbemerkt. Ein Aussteiger berichtet.
„Shincheonji“ ist der koreanische Name einer christlichen Sekte, die 1984 von einem Prediger namens Lee Man Hee gegründet wurde. Übersetzt bedeutet er „Neuer Himmel, neue Erde“. Die Mitglieder sehen sich als letzte Vorboten der Endzeit, deren Aufgabe es ist, die Menschheit in ihrer Gemeinde aufzunehmen.
Seit ihrer Gründung missioniert die Gruppe aggressiv auf der ganzen Welt. Auch in Berlin ist die Sekte aktiv. Die Berliner Organisation tarnt sich aber mit dem Namen „Bibel-Akademie Berlin“. Es gibt viele Wege, auf denen Menschen zu der Sekte kommen – mitunter soll sie sogar auf Dating-Apps wie Bumble aktiv sein, wie die Evangelische Informationsstelle für Sekten erklärt.
Die Gruppe setzt Mitglieder wohl immer wieder stark unter Druck, um die Lehren des Anführers zu verbreiten, wie die Evangelische Kirche Westfalens angibt. Die Gruppe praktiziere eine „in bisher unbekanntem Maßstab ausgefeilte strategische Missionstaktik“. Mitglieder brechen demnach häufig nicht nur ihre Jobs und ihr Studium ab, sondern auch ihre sozialen Beziehungen – selbst zur Familie. Viele Aussteiger*innen leiden unter Paranoia.
Freundliche Menschenfänger
Lasse Selck war nur für einige Monate Mitglied, da er sich früh entschied, die Gruppe wieder zu verlassen. Der hochgewachsene junge Erwachsene mit wilder Frisur arbeitet schon seit Jahren als Fundraiser, will aber vor allem Musiker werden. Selck begab sich auf die Suche nach einem Glauben, mit dem er sich identifizieren konnte. Zuerst griff er zur Bibel, dann zum Koran. Doch dann landete er bei Shincheonji.
„Ich bin direkt zu einer der Veranstaltungen gegangen. Das war ein offener Kurs mit vielen jungen Leuten. Ich war extrem positiv überrascht, wie freundlich die Menschen da waren“, berichtet Lasse Selck von seiner ersten Begegnung mit der christlichen Sekte.
Aber bereits auf der Veranstaltung, die Shincheonji als „Ernte“ bezeichnet, um Neumitglieder zu gewinnen, zeigt sich, wie die Gruppe arbeitet: „Einige sagten dann: ‚Ah ja, wir wissen schon von dir.‘ Das fand ich interessant, ungefähr ein Viertel der Leute da kannten meinen Namen.“ Daran schloss sich eine Lehrstunde zum „Baum des Lebens“ an, die beinahe vorüber war, als der Leiter ankündigte: „Den Rest erfahrt ihr im nächsten Kurs.“ Lasse Selck entschloss sich prompt, den kostenlosen Kurs zu besuchen.
Es begann mit zweistündigen Unterrichtseinheiten an drei Tagen pro Woche. Man durfte nie fehlen, auch wenn man krank war, ansonsten wurde man von der Gruppe ausgegrenzt. Selck gibt zu: „Ich war nicht so vorsichtig wie sonst. Eigentlich habe ich eine gute mentale Firewall.“ In diesem Kurs – der via Zoom stattfand – konnte Lasse Selck schnell eine Beobachtung machen: „Ich bin ja Fundraiser, und dabei lerne ich, Menschen zu überzeugen. Und dann dachte ich: Hm, die machen ja genau dasselbe hier wie ich.“
Von Freunden und Verwandten isoliert
Dann begann Shincheonji, ihn zu bearbeiten. „Ich habe bemerkt, wie sie versuchen, meine sozialen Zirkel abzukappen.“ Diese Vorgehensweise der Gruppe identifiziert Lasse Selck als „die Hauptdynamik, die die benutzen. Sie sagen: ‚Gott will zu dir finden, aber Satan will dich ablenken.‘ Satan wird dann zum Synonym für alle äußeren Einflüsse.“
Als ein solcher „äußerer Einfluss“ gilt auch die Familie. Dazu kommt, dass Shincheonji Neumitglieder mitteilt, gegenüber Uneingeweihten nicht über die Gruppe zu sprechen. Außerdem erinnert sich Lasse Selck: „Erst nach vier oder fünf Wochen wusste ich überhaupt, wie die Organisation heißt.“
Der Name war Lasse Selck anfangs nur unter dem Pseudonym bekannt. Die Sekte will sich damit Uneingeweihten erst nach einigen Monaten der Mitgliedschaft mit ihrem Namen zu erkennen geben. Grund dafür ist, dass sie Angst haben, dass Neumitglieder, die den Namen kennen, über die Gruppe recherchieren, und Artikel finden, die die Sekte kritisch beleuchten.
Bei einer Lehrstunde des Kurses fand Lasse Selcks Vater durch Zufall heraus, welcher Gruppe sein Sohn sich anschloss. Daraufhin findet er Erfahrungsberichte von Ex-Mitgliedern über die Sekte im Internet, die von Shincheonji abraten. Die Argumente seines Vaters jedoch interessierten Lasse Selck anfangs nicht, doch als er über den Anführer der Gruppe aufgeklärt wird, ändert sich seine Meinung.
Ein Anführer mit dunkler Vergangenheit
Laut Steve Matthews, einem Amerikaner, der sich seit Jahren mit Shincheonji beschäftigt, behauptet der südkoreanische Anführer, unsterblich zu sein. Außerdem war dieser zuvor bereits in einer anderen Sekte aktiv. Darüber hinaus wurde der „neue Johannes“ 2022 der Korruption für schuldig befunden und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Diese Informationen verfestigten Lasse Selcks Zweifel noch.
Lee Man Hee wurde in dem Kurs nicht einmal erwähnt. „Man wird dort sehr lange im Dunkeln gehalten, erst stückchenweise werden Infos über die Gruppe gefüttert“, sagt Selck. Nach dem Äußern seiner Zweifel in der Gruppe wird Lasse Selck mehrmals zu Gesprächen mit seiner Lehrerin Olivia R. aufgefordert. Diese Versuche, seine Zweifel auszuräumen, wirkte auf ihn „extrem abstrakt und fern von Gott“.
Lasse Selck findet, dass er eigentlich Glück hatte. „Erst danach wurde mir bewusst, was für einen riesigen Einfluss das auf meinen sozialen Umkreis und meine Weltsicht hatte. Ironischerweise brachte mich die Zeit bei Shincheonji dazu, Dinge stärker zu hinterfragen.“ Zugleich scherzt er immer wieder im Gespräch über die Gruppe, Shincheonji-Mitglieder würden gleich um die Ecke kommen, um ihn doch noch zurückzuholen.
Rückblickend warnt Lasse Selck: „Es gibt sicher Leute, die in schwachen oder verwundbaren Phasen da hineingezogen werden, auch wenn sie es eigentlich nicht wollen. Der negative Druck, um die Leute in der Gruppe zu halten, kann sich bei solchen Menschen auswirken.“ Auf die Frage, was er zu einer solchen Person sagen würde, antwortet er: „Sei sehr vorsichtig. Wir können da gerne drüber reden – aber mach es lieber nicht.“
Die Frist zur Beantwortung der Frage, ob Shincheonji die Vorwürfe, Mitglieder zu manipulieren und unter Druck zu setzen, kommentieren wolle, ließ die Pressestelle der Gruppe unbeantwortet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen