: Die Dreikäseoper
Mauricio Kagels „Zählen und Erzählen“ ist ein heimlicher Klassiker des Musiktheaters. In Bremen erweist er sich als so unverbraucht wie bei der Uraufführung
Von Benno Schirrmeister
Und dann setzt die Musik den Zug in Bewegung. Ganz hinten im Brauhauskeller, der schmalen, aber tiefen Studiobühne des Bremer Theaters, geht ein Ruckeln durch die vier Akteurinnen, die einander gegenüber Platz genommen haben: Bestimmt ist das ein Eisenbahnabteil.
Das Bühnenbild von Bente Heyer und Theresa Isabella Malessa bleibt abstrakt. Es arbeitet konsequent mit räumlichen Andeutungen, die sich mit der szenischen Aktion, also im Zusammenspiel mit Musik und Pantomime, blitzschnell zu konkreten Orten verdichten können. Sie vermögen aber ebenso fast im selben Augenblick und nahezu ohne Umbau auch wieder zu zerstieben, wie Wolkenbilder bei starkem Wind. Nur halt aus Pappe, Stahlrahmen und den Projektionen zweier Overheadprojektoren.
Die bestückt Cristina Lelli vom linken und vom rechten Bühnenrand aus mit collagierten und handgezeichneten Folien. Und so löst sich denn die Eisenbahnfahrt mehr und mehr auf, geht über in einen dämmrigen Traum von vergangenen und immer mehr ins Fantastische sich verlagernden Zeiten. Der macht den Inhalt von Mauricio Kagels Musiktheater „Zählen und Erzählen“ in der aktuellen Bremer Fassung aus: Gründerzeit-Hauptbahnhof in Schwarz-Weiß. Überbordende Käseregale. Totenköpfe mit glühenden Augen. Das Schlagwerk wechselt in einen Dreier-Takt, Geige und Cello finden zu einem schrammeligen Walzer, während Elisa Birkenheier, Mali Gabrielli und Judith Goldberg das Abteil hinter sich lassen und in einen mitunter rauschhaften Bilderbogen nicht restlos bestimmbarer Szenen begeben: Es kommt zu Käsekonsumrausch, pandemischer Zombifikation, und ja doch, ganz klar: einer Lovestory. Bei der übernimmt dann Mozart: Sebastian Caspar (Geige) und Leander Kippenberg (Cello) zitieren ausführlich das G-Dur-Duo, und Tobias Hamanns Schlagwerk schweigt in diesen zärtlichen Momenten.
„Zählen und Erzählen“ ist ein heimlicher Klassiker des neuen Musiktheaters. Und dennoch läuft das Stück nie Gefahr, wie der Abklatsch einer früheren Produktion zu wirken: Es ist jedes Mal auf radikale Weise neu. Jede Produktion ist genauso eine Uraufführung wie die erste, die 1976 im Studio der Bonner Beethovenhalle stattfand, und das auch musikalisch. Denn der Komponist, 1931 in Buenos Aires geboren und kurz vor der ersten Militärdiktatur nach Deutschland ausgewandert, hat statt eines Textbuchs oder einer Partitur eine Spielregel verfasst. Sie legt fest, wie die Aufführung zu entstehen hat. Der Grundgedanke folgt dabei dem kategorischen Imperativ des Surrealismus: Kinder an die Macht! Nur hat der antiautoritäre Kagel die Parole halt viel wörtlicher genommen, als es André Breton oder Roger Vitrac jemals in den Sinn gekommen wäre. Und er hat sie zugleich deutlich eingeschränkt: Das Recht auf totale Herrschaft hat niemand. Egal, wie jung. Und unerwachsen können alle sein. Egal, wie alt. Erst geteilt kann Macht menschlich sein.
Die Kinder, das sind in diesem Fall die 19 Schüler*innen einer sechsten Klasse der Oberschule Schaumburger Straße. Sie spielen nicht mit. Ihre Aufgabe stattdessen: Sie haben das Bühnengeschehen bestimmt. Dafür haben sie, das ist der Auftrag, den der Komponist ihnen erteilt hat, eine Woche vor der Premiere reihum erzählt, was ihnen in den Sinn kommt. Jedes Kind hat dafür zwei Minuten, dann ist das nächste dran. Nach maximal drei Durchgängen ist Schluss: Aus diesem Material haben dann Instrumentalist*innen und Profi-Performer*innen, Bühnentechnik und Ausstattung bis zum vorab festgelegten Premierendatum Musik, Aktionen und Bilder zu entwickeln. Für deren Zusammenhalt haben wiederum Dramaturgin Frederike Krüger und Regisseurin Sarah Weinberg gesorgt.
Sie haben sich, vielleicht etwas konventionell, für eine zyklische Anlage entschieden. Die Zugfahrt des Beginns markiert auch den Schluss. Die Wirrungen und Sprünge der Handlung werden als Traum plausibel gemacht. Was mit handgeschlagenen Tomtoms beginnt, endet auch mit ihrem entspannten Rhythmus. Nur wenig Raum bleibt für Improvisation, die Kagel empfiehlt. Die angekündigte Spieldauer von 46 Minuten wird sehr exakt eingehalten. Super sparsam werden stimmliche Akzente – Laute der Verwunderung und Schreie des Schreckens – eingesetzt, emotional starke Tupfer, die das Gesangsverbot des Komponisten charmant unterwandern.
Notwendig das Unvollkommene zu verursachen, die der Produktion eingeschriebene Hektik, die Möglichkeit, es im Kopf weiter auszumalen, das Klangspektrum zu erweitern, die Form wieder zu sprengen: Das ist das Geniale dieses kompositorischen Konzepts. Es demokratisiert die Kunst. Es befreit sie folgerichtig auch vom elenden Hang zu belehren. Und es erweist sich zugleich als Liebesbrief an – wie auch als Totenschein für – die große Oper: Man sollte sich immer das bombastische Teatro Colón, den Ausgangspunkt von Kagels künstlerischem Schaffen, als möglichen Spielort auch dieser Anti-Oper denken. Sie fordert den Staatsopernapparat als kreatives Reservoir, und verspottet zugleich die Routine des Perfektionsstrebens und das Gesetz der ewigen Reproduktion, dem gerade Musiktheater sich allzu leichtfertig unterwerfen, und der die schöpferische Dynamik auslöscht. Der Impuls aber, genau zu dieser wieder vorzustoßen, tut jedem Musiktheater gut: Möglich, dass es sich bei „Zählen und Erzählen“ in Bremen um die schönste, sicher, dass es sich um die relevanteste Produktion der Saison handelt.
Aufführungen: 7. + 9. 2., jeweils 10.30 Uhr, Theater Bremen, Brauhauskeller
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