piwik no script img

Was Streiks ins Rollen bringen

Streik macht erfinderisch. Das könnte man mit Blick auf das Bild dieser Frau sagen, die im Juli 1919 auf Rollschuhen zur Arbeit rollt, weil die Berliner Verkehrsbetriebe streiken. Streik ist Unterbrechung, ist Einschnitt, ist Stillstand für den Fortschritt. Ausgerechnet das vermeintlich so arbeitsaffine Deutschland erlebte diese Woche eine Superstreikwoche. Am Dienstag legten in den Unikliniken Ärz­t:in­nen das Operationsbesteck nieder, am Mittwoch gingen die Bauern in eine nächste Runde, am Donnerstag ließ das Sicherheitspersonal an Flughäfen die Security-Schleusen unbeaufsichtigt, und am Freitag rollten im öffentlichen Nahverkehr weder Busse noch Straßenbahnen.

Natürlich gab es immer wieder mal große Arbeitskämpfe in der deutsch-deutschen Geschichte – der politisch gewordene Aufstand in der DDR 1953, die Industriestreiks der 1970er in der BRD, die Me­tal­le­r:in­nen in Westdeutschland im Jahr 1984. Doch eigentlich schien der oder die Deutsche an sich im Vergleich zu seinen belgischen, französischen und italienischen Nach­ba­r:in­nen arbeitsam bis -wütig. Von klein auf trällert man in Deutschland „Danke für meine Arbeitsstelle“, und die Hamburger Band Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen brachte den hiesigen Arbeitsethos einst auf die treffende Formel: „Das Wort, das die Deutschen lieben / hat sechs Buchstaben und nicht sieben / Arbeit ist, oh Arbeit ist ein Sechsbuchstabenwort“.

Ist da gerade etwas im Wandel? Es scheint jedenfalls ein Bewusstsein dafür zu wachsen, dass die ständige Beschleunigung, Flexibilisierung und Verdichtung der Arbeitswelt einen Ausgleich braucht, ob durch Lohn oder Arbeitszeitverkürzung. Dass der Paket- und Lieferdienstwahnsinn, zum Teil auch Zustände auf Kranken- und Altenpflegestationen gelebte Dystopien sind. Dass die Algorithmisierung eine neue Arbeitswelt geschaffen hat, diese fortdauernd verändert und wir uns entsprechend mit neuen Arbeitsformen ebenso fortdauernd anpassen müssen. Gerade die jüngere Generation tritt in Zeiten des Fachkräftemangels mit neuem Selbstbewusstsein auf. Sie weiß, dass der Arbeitsmarkt sie dringend braucht. Gut so!

Dabei scheinen die alten Tanker Gewerkschaften eine kleine Renaissance zu erleben: 193.000 Neueintritte bei Verdi im Jahr 2023, auch die IG-Metall-Bezirke Küste und NRW hatten größere Zuwächse als in den Vorjahren. Daraus einen Trend abzuleiten wäre verfrüht, schließlich verlieren die Gewerkschaften jährlich auch Tausende Mitglieder – Verdi etwa 152.000. Und in den kommenden Jahren verabschieden sich die arbeitskampffreudigen Boomer aus dem Erwerbsleben. Immerhin ist es Gewerkschaften wie Verdi gelungen, sich vom Abgestanden-Alten, vom Vereinsmeierischen und Hinterzimmerigen zu lösen, indem sie sich für die jüngere Generation geöffnet haben. Die verstärkte Kooperation mit Fridays for Future wäre ein gutes Beispiel dafür.

Foto: Willy Römer/ BPK

Was nehmen wir also mit aus dieser Streikwoche? Vielleicht sollten wir uns von den Ärz­t:in­nen, den Bus- und Bahnfahrerinnen und all den Streikenden dazu animiert fühlen, die mentalen Rollschuhe unterzuschnallen und Arbeit neu zu denken. Bestenfalls erkennen wir dann alle, dass Arbeit um jeden Preis nicht alles ist – und werden vielleicht erfinderisch. Jens Uthoff

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen