Keine Erfassung des Schiffsverkehrs: Unsichtbar im Meer
Ein Großteil der Aktivitäten auf See wird nicht offiziell erfasst. Davon profitieren vor allem diejenigen, die nichts Gutes im Schilde führen.
Der Legende nach stolzierte der Seeräuber Klaus Störtebeker nach seiner Hinrichtung kopflos an seinen elf Kameraden vorbei. Er soll 1401 an der Stelle der heutigen Hamburger Hafencity enthauptet worden sein. Ob er tatsächlich ein Pirat war – ein rumtrinkender, säbelschwingender Tunichtgut – oder ob er im Dienste des Herzogs von Mecklenburg stand, ist bis heute nicht geklärt. Einige Historiker:innen gehen sogar davon aus, dass Störtebeker eigentlich ein Kaufmann war, der für seine Auftraggeber Waren und Schiffe eintrieb.
Dass sich um die Seefahrt und um Seefahrende wie Störtebeker so viele Mythen und Gerüchte ranken, liegt auch daran, dass oft nicht bekannt ist, was auf See wirklich geschah und wo sich die Schiffe tatsächlich befanden. Möglicherweise hat auch der eine oder andere Matrose nach einem Besuch in der Hafenkneipe Seemannsgarn gesponnen.
Eine im Januar in der Fachzeitschrift Nature erschienene Studie zeigt nun, dass auch heute noch weniger über Schiffe auf See bekannt ist, als viele wahrscheinlich vermuten. Die Studie wurde von Forscher:innen unter der Leitung von Global Fishing Watch durchgeführt, einer Organisation, die Karten und Technologien entwickelt, um die Aktivitäten auf den Weltmeeren zu verfolgen. Aus ihr geht hervor, dass etwa drei Viertel aller industriellen Fischerboote und ein Viertel aller Transport- und Energieschiffe in den bisherigen Erhebungen zum Schiffsverkehr nicht erfasst wurden. Zu den Transport- und Energieschiffen zählen Öltanker, Passagierschiffe, Frachtschiffe sowie Hilfsboote.
Grund dafür ist die mangelhafte öffentliche Überwachung von Schiffen. Diese erfolgt durch Dienste wie das Automatic Identification System (AIS), auf Deutsch: automatisches Identifizierungssystem. Die Schiffe übermitteln ihre Koordinaten an andere Schiffe, Verkehrszentralen und an Landstationen, so dass diese ihre Bewegungen verfolgen können. Die AIS-Daten geben dabei Auskunft über die Identität, den Eigentümer und die Tätigkeit eines Schiffes. Es sind aber nicht alle Schiffe verpflichtet, AIS-Dienste zu nutzen. Die Vorschriften variieren je nach Land, Schiffsgröße und Tätigkeit.
Unbeobachtete Fischerei
So verlangt die Europäische Union AIS-Daten von allen Schiffen, die länger als 15 Meter sind. In den USA müssen Schiffe, die kürzer als 19 Meter sind, keine Daten übermitteln. China, Japan und Südkorea haben keine spezifischen AIS-Vorschriften. Dazu kommt, dass in weiten Teilen der Welt, wie im Pazifik und Südatlantik, der AIS-Empfang via Ultrakurzwelle schlecht ist. Schiffe, die in illegale Aktivitäten verwickelt sind, schalten ihre AIS-Transponder aus oder manipulieren die übermittelten Positionen.
Das Forschungsteam hat den Seeverkehr in mehr als 15 Prozent der Ozeane mithilfe von hochauflösenden Satellitenbildern analysiert. Sie untersuchten ein Gebiet, in dem zwischen 2017 und 2021 drei Viertel der globalen Schifffahrt stattfand. Mithilfe einer künstlichen Intelligenz (KI) klassifizierten sie die Schiffstypen. Sie speisten die KI mit Daten über Schiffsgeschwindigkeit, Entfernung zu Häfen sowie reflektiertem Licht der Schiffe. So erkannten sie die Schiffsbewegungen auf den Satellitenbildern.
Demnach fuhren zu jedem beliebigen Zeitpunkt durchschnittlich 63.300 Schiffe auf den Weltmeeren. Knapp die Hälfte identifizierte das Forschungsteam als industrielle Fischerboote. Etwa drei Viertel davon übermittelten keine AIS-Daten. Hotspots der unbeobachteten industriellen Fischerei liegen vor Nordkorea und China.
„An Land haben wir detaillierte Karten von fast jeder Straße und jedem Gebäude auf unserem Planeten. Im Gegensatz dazu ist der Öffentlichkeit das Wachstum in unseren Ozeanen weitgehend verborgen geblieben“, sagt David Kroodsma, Direktor für Forschung und Innovation bei Global Fishing Watch und Co-Autor der Studie.
Keine genauen Daten
Patrick Halpin, Co-Autor der Studie
Zeitgleich mit der Coronapandemie ging die industrielle Fischerei weltweit zwar um etwa 12 Prozent zurück. Im Gegensatz dazu blieb aber die Aktivität von Transport- und Energieschiffen stabil. Ölbohrinseln nahmen sogar um 16 Prozent zu, während sich die Zahl der Windturbinen mehr als verdoppelte. Chinas Offshore-Windenergie verzeichnete mit einer Verneunfachung von 2017 bis 2021 das größte Wachstum.
Die Zahlen bestätigen einen Trend, der sich auf den Weltmeeren schon länger abzeichnet: Die industrielle Fischerei, ausgenommen die Fischzucht, hat ihren Zenit bereits überschritten. Die Wachstumsrate erreichte 1963 ihren Höhepunkt und stagnierte in den 1990er Jahren. In den letzten Jahren ging sie langsam zurück. Dennoch: „Der globale Ozean ist ein geschäftiger, überfüllter und komplexer industrieller Arbeitsraum“, sagt Patrick Halpin, Co-Autor und Ökologe an der Duke University.
Die Studie stellt zudem das bisherige Wissen über die Geografie der industriellen Fischerei auf den Prüfstand: „Von zehn Fischereifahrzeugen, die wir auf dem Wasser gefunden haben, waren sieben in Asien und nur eines in Europa“, sagt Co-Autorin Jennifer Raynor, Wirtschaftswissenschaftlerin an der University of Wisconsin-Madison. Öffentliche Daten ließen zuvor vermuten, dass in den Grenzen von Asien und Europa ähnlich viel gefischt wird.
Forschende wie Ökonom:innen und Ökolog:innen sind auf präzise Daten angewiesen, um zum Beispiel das Ausmaß des maritimen Handels oder die Folgen der Überfischung auf die Fischbestände zu messen. Für beide Forschungsfelder wirft der Datensatz neue Fragen auf: Sind die globale Meereswirtschaft und die illegale Fischerei möglicherweise viel größer als bisher angenommen?
Zumindest beweisen die Satellitenbilder, dass auch dort industrielle Fischerboote unterwegs sind, wo sie nicht fischen dürfen. Im Meeresschutzgebiet der Galapagos Inseln im Pazifischen Ozean und im Great Barrier Reef vor Australien wurden größere Fischerboote entdeckt. In beiden Schutzgebieten ist die Fischerei in weiten Teilen verboten.
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