Roman „Maniac“ von Benjamín Labatut: Als die Maschine denken lernte
Der Schriftsteller Benjamín Labatut erzählt von Hochbegabten, die sich daranmachen, künstliches digitales Leben zu erschaffen: „Maniac“.
Die Geniedichte ist ausgesprochen hoch. Es wimmelt in diesem Roman von Hochbegabten in Diensten des militärisch-industriellen Komplexes: Mit Eugene Paul Wigner, Sydney Brenner und Richard Feynman kommen allein drei Nobelpreisträger zu Wort, ebenso wie der Spieltheoretiker Oskar Morgenstern oder der Computer-Pionier Julian Bigelow.
Man wird ein wenig wehmütig beim Lesen, dass man selbst wohl niemals wird einwandfrei nachvollziehen können, was sie in ihren Disziplinen erstmals zu denken gaben. Dabei sind sie selbst allesamt einem von ihnen unterlegen, dem Mann, dessen Geschichte sie aus ihren wechselnden Perspektiven erzählen: John von Neumann.
In seiner kurzen Lebenszeit von 1903 bis 1957 bereitet er der Informatik den Weg, prägt die Militärstrategie des Kalten Krieges entscheidend, arbeitet als Berater am Manhattan-Projekt ebenso mit wie an zahlreichen anderen Rüstungsvorhaben. Als er im Sterben liegt, so schildert es der chilenische Autor Benjamín Labatut, sitzt die gesamte militärische Elite der USA an seinem Bett und wartet auf eine letzte Idee dieser Geistesgröße, die seiner Zeit wie vielleicht kein anderer den Stempel aufgedrückt hat.
Und nicht nur seiner Zeit, sondern auch der Zukunft oder besser: unserer Gegenwart. Zum Ende seines Lebens stiehlt von Neumann die Forschungsergebnisse eines Institutsmitarbeiters namens Nils Aall Barricelli (auch ihn gab es tatsächlich), der von Neumanns titelgebenden Supercomputer „Maniac“ mit Zahlen füttert in der Hoffnung, dass diese, ähnlich wie der Mensch, eine evolutionäre Entwicklung durchschreiten.
Gründer der KI-Forschung
Barricellis Ziel besteht darin, künstliches digitales Leben zu erschaffen, und einiges spricht dafür, dass dies zwar nicht ihm, aber von Neumann tatsächlich glückt. Mindestens aber begründet dieser noch kurz vor seinem Tod, ausgehend von den gestohlenen Erkenntnissen, die KI-Forschung.
Benjamín Labatut: „Maniac“. Aus dem Englischen von Thomas Brovot. Suhrkamp, Berlin 2023, 395 Seiten, 26 Euro
Hier endet der zweite und längste des in drei Teile strukturierten Buchs. Im ersten werden zunächst am Beispiel einer gescheiterten Biografie die Kräfte vorgestellt, die das 20. Jahrhundert vorantreiben: die mathematische Naturwissenschaft und der politische Fanatismus.
Labatut schildert den Niedergang des Physikers Paul Ehrenfest, der 1933 zunächst seinen mit dem Down-Syndrom geborenen Sohn und dann sich selbst erschießt. Nicht nur die politischen Umstände bewegten den aus einer jüdischen Familie stammenden Österreicher zu diesem Schritt. Seine Verzweiflung ist auch eine intellektuelle.
Ehrenfest, ein begnadeter Didaktiker, ist Vertretern der neuen Quantenmechanik zwar zugeneigt, aber er fürchtet ihre Theorie auch, lässt sie sich doch nicht widerspruchsfrei verstehen und daher auch nicht vermitteln. Mehr noch, „wurde er das Gefühl nicht los, dass man eine Linie überschritten hatte, dass ein Dämon in der Seele der Physik herangewachsen war, ein Geist, den weder seine noch irgendeine nachfolgende Generation wieder zurück in die Flasche bekäme“.
Künstliche Intelligenz
Eine solche Dynamik wirkt im dritten Teil nach, in dem sich die Folgen der Forschung John von Neumanns darin zeigen, was wir heute künstliche Intelligenz nennen, was wir bewundern, aber auch zu fürchten lernen. Lababut erzählt die Geschichte des Go-Großmeisters Lee Sedol, der 2016 ein Turnier gegen ein Computerprogramm verliert. Sein wenige Jahre darauf folgendes Karriereende begründet er mit der Niederlage gegen die Software. Es sei nun sinnlos weiterzuspielen, „immer wäre da eine Intelligenz, die nicht zu besiegen ist“.
Lee Sedol empfindet offenbar das, was der Philosoph Günther Anders „prometheische Scham“ nannte, den Schmerz über die eigene Unterlegenheit im Vergleich zur Perfektion der Maschine. Im Unterschied jedoch zu Anders bemüht Benjamín Labatut keine mythologische Metaphorik zur Verdeutlichung dieses Gefühls. Das 20. Jahrhundert ist bei ihm die Schwelle, an der der Homo sapiens auf keine Geschenke von Göttern oder Titanen mehr angewiesen ist, sondern im Gegenteil selbst Göttliches in die Welt setzt.
Sein Buch kommt insofern gerade rechtzeitig, da sich die Weltbevölkerung mit den Fähigkeiten von ChatGPT bekannt macht. Lababut versucht sich an einer Erklärung, wie es dazu kam, dass Programme Abermillionen Jobs infrage stellen, dass sie nicht nur besser rechnen, sondern auch denken lernten, dass sie, glaubt man den Apokalyptikern, die ganze Menschheit eines Tages für verzichtbar halten könnten.
In einer Hinsicht jedoch sorgt Labatut für Entwarnung: Einen so intelligenten Roman wie seinen hätte die Maschine nicht hingekriegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!