Wie Galka Scheyer die blaue Vier erfand

Als Netzwerkerin internationalen Formats hat Emilie Scheyer aus Braunschweig Alexej von Jawlensky, Wladimir Kandinsky, Paul Klee und Lyonel Feininger in den USA etabliert – als eigene Marke

Wie eine neckische Revanche an der Strippenzieherin wirkt die Handpuppe, der Paul Klee 1922 die Züge Galka Scheyers verliehen hat Foto: Dominique Uldry/Zentrum Paul Klee, Bern

Von Bettina Maria Brosowsky

Antisemitismus kennt viele Formen. Es gibt nicht nur den aktiven, in Wort, Schrift oder Verhalten vertretenen, es gibt ihn hierzulande auch als (un-)bewusstes, jahrzehntelanges Ignorieren der durch den Holocaust ausgelöschten jüdischen Kultur. Oft sind es Einzelne, die sich des Lebens und Wirkens einer vergessenen Person annehmen, nachforschen und Quellen befragen, um ein Puzzle zusammenzutragen, das über die Biografie hinausweist.

Bravourös geglückt ist dieses Kunststück dem Schweizer Theatermacher Gilbert Holzgang mit der in Braunschweig geborenen Künstlerin und Kunstagentin Galka Scheyer (1889–1945), die Anfang des Jahrhunderts eine zentrale Rolle für die Verbreitung neuer, europäischer Kunst in den USA spielte. Seine kürzlich erschienene, über 340 Seiten starke, großformatige Publikation „Galka Scheyer. Ein Leben für Kunst und Kreativität“ erzählt materialreich und fesselnd eine personifizierte Kulturgeschichte. Die spannt sich international aus und vermag im amerikanischen Exil Kunst, Architektur und Markt zu verbinden.

Gilbert Holzgang lebt seit über 20 Jahren in Braunschweig. Er war Mitbegründer des freien LOT-Theaters und ist Herr eines eigenen Dokumentar-Theaters „Zeitraum“. Mit ihm bringt er seit Langem szenische Lesungen auf die Bühne, meist in Theatersälen alter Gaststätten. Galten erste Stücke lokalen NS-Größen und der Kontinuität ihres Wirkens nach 1945, hatte er bald genug von Goeb­bels und Konsorten, wie er es ausdrückt. Im Jahr 2018 würdigte er mit Götz von Seckendorff (1889–1914) anhand von dessen Briefen einen gleichaltrigen Nachbarn und Malerkollegen Scheyers. Er intensivierte seine Arbeit zu ihr, ist seit 2020 Vorsitzender des Braunschweiger Galka Emmy Scheyer Zentrums.

Eine Quelle seiner Publikation waren Tagebücher seiner Protagonistin, die ihre Nachlassverwalterin und Jugendfreundin Lette Valeska (1885–1985) entgegen der testamentarischen Verfügung nicht vernichtete sondern zu, sicherlich idealisierten, Lebenserinnerungen edierte. Der ebenfalls aus Braunschweig gebürtigen späteren Hollywood-Fotografin Valeska galt auf Anregung Holzgangs kürzlich eine Ausstellung im Städtischen Museum Braunschweig. Die Publikation bildet nun die Vorhut einer kommenden Würdigung Scheyers.

Die schillernd exzentrische, aber auch schwierige Figur Galka Scheyer ist ein lohnendes Objekt der Betrachtung. Bereits 2019 veranstaltete die Bet Tfila Forschungsstelle für jüdische Architektur der TU Braunschweig eine wissenschaftliche Tagung zu ihr. Seit 2021 liegt der Ergebnisband vor. Scheyers Lebensweg verlief ähnlich dem vieler gutbürgerlich assimilierter, religionsferner deutscher Jüdinnen und Juden im 20. Jahrhundert. Behütet und materiell versorgt, konnte die als Emilie Esther, genannt Emmy, Geborene Musik- wie Malereiunterricht nehmen und Fremdsprachen lernen.

Ihre eigene künstlerische Tätigkeit, die sie ab 1916 reduzierte, jedoch nie aufgab, schlug sich in einem beachtlichen Frühwerk nieder. Ihm galt 1919 eine Ausstellung im herzoglichen Museum in Braunschweig. Die lokale Kritik würdigte den „Farbenrausch“ der Bilder. Die Zäsur anno 1916 war die Konsequenz aus einer Begegnung mit dem russischen Maler Alexej von Jawlensky. Der, 25 Jahre älter, lebte in materieller Bedrängnis in der Schweiz, seit er infolge des Ersten Weltkriegs seine Wahlheimat München hatte verlassen müssen. In seinen Werken erkannte Scheyer eine tiefe geistige Fundierung und transzendente Qualität – und gestand sich ihre eigenen künstlerischen Grenzen ein.

Der Maler Alexej Jawlensky verpasst ihr den Namen Galka, zu Deutsch: Dohle, wegen ihrer durchdringenden Stimme

Fortan war sie Jawlenskys Vertraute und Agentin. Er gab ihr den Namen Galka, zu Deutsch: Dohle, wegen ihrer alles durchdringenden Stimme und resoluten Art. Mit Elan begann sie, seine Arbeit zu propagieren und Verkäufe zu vermitteln. Sie organisierte eine mehrjährige Ausstellungstournee quer durch Deutschland, häufig, wie in der Kestner Gesellschaft Hannover, begleitet von eigenen Vorträgen.

Finanziell durchaus erfolgreich, erhielt Scheyers Tätigkeit einen fast vernichtenden Dämpfer, just als sie erhoffte, in Weimar am Bauhaus Fuß fassen zu können: Sie hätte sich Bilder Jawlenskys unrechtmäßig angeeignet und biete sie nun zum Verkauf an, lautete 1922 die Verleumdung. Dass Jawlensky sich uneindeutig positionierte, gehörte wohl zu den vielen Enttäuschungen in Scheyers Leben.

Am Bauhaus hatte Scheyer die Lehrenden Paul Klee, Wassily Kandinsky und Lyonel Feininger kennengelernt. So erweiterte sie die Riege der von ihr vertretenen Künstler und erfand 1924 ein Label für sie: Die Blaue Vier, mitunter auch die „4 Blauen Könige“ waren geboren – und die sahen in Scheyer ihr „Kindermädchen“, ihren „little friend“ oder ihren „Minister“. Für diese „Blue Four“ brach sie auf Ausstellungs- und Verkaufsreise in die USA auf. Dorthin kehrte sie 1933 als fast mittellose Exilantin zurück. Ihr waren dann noch zwölf Jahre vergönnt, ausgefüllt mit mäßigen Erfolgen und auch missgünstiger Konkurrenz im Kunsthandel, aber großer Wirkkraft als Netzwerkerin internationalen Formats.

Der San Francisco Examiner inszeniert Scheyer 1925 als Prophetin Foto: wikimedia Commons

Künstler:innen, Emigrant:innen, Museumsleute und Avantgarde-Architekten, die Hollywood-Prominenz oder auch ein Einzelgänger wie John Cage profitierten von ihren Kontakten. Nicht nur zum Broterwerb arbeitete sie als Kunstpädagogin mit Kindern. Ihr Konzept einer „free imaginative and creative Art“ sollte sie zum selbstbestimmten künstlerischen Ausdruck ermutigen. Das Los Angeles Museum zeigte 1940 eine Auswahl von in diesem Unterricht entstandenen Kinderzeichnungen.

Scheyer sei in vielem intuitiv ihrer Zeit voraus gewesen, fasst Holzgang zusammen. Sie habe, allen finanziellen Engpässen, gesundheitlichen Rückschlägen und persönlichen Kränkungen zum Trotz, unermüdlich ihr breites Interessens- und Arbeitsspektrum verfolgt. „Galka Scheyer und die Blaue Vier“ heißt, pünktlich zum 100 Jahre nach deren Erfindung, eine Ausstellung im Städtischen Museum Braunschweig. Und natürlich hat Gilbert Holzgang noch unbekanntes Material in petto. Das nutzt er, um ab April mit seiner neuen Theaterproduktion „Galka Scheyer, ganz allein“ seine Protagonistin sehr persönlich zu ehren.

Buch Gilbert Holzgang: „Galka Scheyer. Ein Leben für Kunst und Kreativität“, Petersberg, Imhof Verlag, 352 S., 49,95 Euro

Ausstellung „Galka Scheyer und die Blaue Vier“, 23.2. bis 19.5., Städtisches Museum Braunschweig

Performance „Galka Scheyer, ganz allein“, ab April, alle Infos unter www.theater-zeitraum.de