Ein Land am Abgrund

In Ecuador explodiert die Gewalt. Präsident Noboa setzt auf Militär und Bürgerkriegsrecht, um den Bandenterror der Narcos zu bekämpfen. Doch das könnte die Gewaltspirale noch weiter antreiben

Die Hände eines verhafteten Kriminellen in Handschellen.

Nach der Geiselnahme durch Banden in einem TV-Studio kam es in ganz Ecuador zu Verhaftungen Foto: Ivan Alvarado/reuters

Aus Quito Karin Gabbert
und Stefan Reinecke

Ein bärtiger Mann mit breitkrempigen Hut streichelt versonnen einen Kampfhahn und begrüßt im Gefängnishof seine Kumpane. „Er ist der Chef und der Patron“, singt eine Mariachi-Band. Und auch die Tochter des Mannes himmelt ihn auf einem Pferd sitzend an, sie blickt in die Ferne und singt: „In deinen Adern fließt gutes Blut.“

José Adolfo Macías Villamar, genannt Fito, ist der Star im Videoclip „El Corrido del León“. Und er ist der Chef der Choneros, der größten Drogenbande Ecuadors. Wegen Raubüberfalls, Drogenhandels und Mord sitzt Fito 34 Jahre ab.

Das Video, veröffentlicht im September 2023, war eine Art Werbung für die Choneros. Mit knapp 20.000 Mitgliedern sind sie die größte von fast zwei Dutzend kriminellen Banden, die vor allem die Küste Ecuadors seit Jahren mit einem engmaschigen Netz von Raub, Erpressung, Drogenverkauf und Mord überziehen. Vor allem aber war der Clip eine Kampfansage des mächtigen Mafiabosses an die Regierung: Ich tue im Knast, was ich will. Auch Filme drehen. Dass die Chefs der Drogenbanden ihre blendend laufenden Geschäfte aus den Gefängnissen heraus steuern, ist allgemein bekannt.

Fito ist eine Schlüsselfigur in der Gewalteskalation, die das Land seit zwei Wochen erschüttert. Die Banden haben mit Autobomben, der Geiselnahme von 200 Gefängniswärtern und Polizisten, der Erstürmung eines TV-Studios und Schießereien auf offener Straße in der Hafenstadt Guayaquil bürgerkriegsähnliche Zustände hergestellt. Das Ziel: zeigen, dass sie das Sagen haben.

Ein Grund dafür war die geplante Verlegung von Fito in das Hochsicherheitsgefängnis La Roca, in dem es schwieriger wäre, Musikvideos zu drehen. Doch die Soldaten, die den Mafioso nach La Roca bringen sollten, fanden Anfang Januar im Knast in Guayaquil nur eine leere Zelle vor. Jetzt gibt es offene Fragen: Wann hat Fito das Gefängnis verlassen? Warum hielt niemand es für nötig, der Regierung mitzuteilen, dass der Staatsfeind Nummer eins geflohen war? Woher wusste der Drogenboss, was ihm drohte? Laut New York Times kam der Tipp aus der Regierung von Präsident Daniel Noboa – ein Hinweis, dass die Frontverläufe bei diesem blutigen Kampf komplizierter sind als „Staat gegen Mafia“.

Der junge Präsident Noboa, Sohn einer der reichsten Familien des Landes und erst ein paar Monate im Amt, hat den Banden den Krieg erklärt. Nicht metaphorisch, sondern real. Die rund 50.000 Bandenmitglieder werden nun vom Militär bekämpft, das über 35.000 Soldaten verfügt. Für die Narcos gilt nicht mehr ecuadorianisches Recht, sie werden wie Gegner in einem Bürgerkrieg behandelt. Nach den Geiselnahmen, Gewaltausbrüchen und Fitos Flucht gab es fast 2.000 Verhaftungen.

Ecuador war lange ein recht stabiles Land ohne ausgeprägte Gewaltkultur. Wohl noch nie hat sich ein leidlich intaktes Gemeinwesen so schnell (jedenfalls in manchen Küsten­regionen) in einen failed state verwandelt. In manchen Orten­, wie der Großstadt Durán, haben die kriminellen Banden die Herrschaft übernommen. Die Polizei ist verschwunden. Schulunterricht gibt es in Durán nur noch online. Der Bürgermeister regiert aus dem Untergrund.

2016 lag die Mordrate in Ecua­dor ungefähr auf dem Niveau der EU. Heute ist sie fast zehn Mal so hoch, doppelt so hoch wie in Mexiko. Auch jenseits der kriminellen Hotspots an der Küste müssen manche Schulen, Unternehmer und Cafés Schutzgeld an Banden bezahlen. Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in die Schule – aus der begründeten Furcht, dass sie auf dem Schulhof von Narcos angeworben werden. Vor fünf Jahren war all das noch kaum vorstellbar. Warum diese Gewaltexplosion? Warum jetzt?

Es gibt drei Gründe, die alle in die gleiche Richtung wirken. Nur alle zusammen erklären Wucht und Tempo dieses Verfallsprozesses. Erstens ist die ökonomische Lage nach der Pandemie übel. Das Pro-Kopf-Einkommen ist niedriger als vor Corona. Nur ein Drittel der BürgerInnen hat einen regulären Job – vor 2020 waren es noch 40 Prozent. Laut Präsident Noboa sind zwei Millionen junge Ecuadorianer ohne Anstellung – sie sind das Reservoir für die Narco-Gangs.

Zweitens: Der ohnehin fragile Staat ist in den letzten sieben Jahren mit einem radikalen Sparkurs ruiniert worden. Ein geradezu bizarres Zerstörungswerk geht auf das Konto von Guillermo Lasso, der 2023 wegen Korruptionsvorwürfen als Präsident zurücktreten musste. Polizisten bekamen monatelang kein Gehalt. Das Justizministerium wurde bereits 2018 abgeschafft. Mehr Geld für die Gefängnisse, in denen Hunderte von Morden geschahen und die teilweise von Banden regiert wurden? Fehlanzeige. Ende 2023 war – mitten in einer beispiellosen Welle krimineller Gewalt – erst ein knappes Drittel des ohnehin gekürzten Etats für Sicherheit ausgegeben.

Und schließlich ist Ecuador in den vergangenen Jahren zu ­einem zentralen Schauplatz von Drogenexporten geworden. Die Kokapflanzen werden in Peru, Kolumbien und Bolivien angebaut, teilweise in Ecuador verarbeitet und über Guayaquil, mittlerweile einer der wichtigsten Kokain-Exporthäfen der Welt, verschifft – vor allem über Antwerpen und Hamburg nach Europa. Die ecuadorianischen Banden organisieren den Transport. Die Choneros sind eine Art Subunternehmen des global agierenden mexikanischen Sinaloa-Kartells.

Die aktuelle extreme Brutalität spiegelt, so der ecuadorianische Experte für Drogengewalt Fernando Carrión, Umbrüche im globalen Drogenhandel wider. Lokale Handlanger wie die Choneros „werden nicht mehr mit Dollar bezahlt, sondern mit Kokain“. Deshalb erschließen sie lokale Märkte. Dafür müssen sie sich besser organisieren und wachsen. Das führt zu Rivalitäten mit anderen Gangs, Schießereien, Exekutionen – und erklärt den sprunghaften Anstieg der Mordrate.

Ein abwesender Staat, brutale Mafia-Revierkämpfe, eine depressive wirtschaftliche Lage – eine toxische Mixtur. Das Militär zu mobilisieren war vielleicht die einzige Möglichkeit, wieder so etwas wie staatliche Autorität herzustellen. Selbst die Opposition applaudierte dem 36-jährigen Noboa. Passanten jubelten, als Soldaten Jugendgangs verhafteten. Denn das Militär ist weniger verfilzt mit den Drogenbanden als die Polizei.

In der Großstadt Durán haben die kriminellen Banden die Herrschaft übernommen

Spricht also nicht alles dafür, das Militär strategisch gegen Narcos einzusetzen? Genau das wurde in Mexiko vor 15 Jahren mit Unterstützung der USA gemacht – mit grauenhaften Folgen. Die Militarisierung des Kampfs führte zur Aufrüstung auf beiden Seiten. Die Zahl der zivilen Toten in diesem „Krieg gegen die Drogen“ schnellte sprunghaft nach oben. Seit 2006 sind weit mehr als 300.000 Menschen in diesem Konflikt gestorben. Die Geschäfte der Kartelle florieren noch immer.

Statt einer Militarisierung bräuchte es eine Kombination von intakter Polizei, harten Urteilen, Gemeinsinn und einem starken (Sozial-)Staat. Mit dem Staatsvertrauen steht es allerdings nicht zum Besten. Daniel Noboa hat als Präsident als Erstes ein Gesetz im Parlament eingereicht, das 90 Millionen Dollar Steuerschulden seines Familienclans wundersamerweise in Luft aufgelöst hätte. Die Opposition stoppte den Versuch im letzten Moment.

Und nun? Immerhin haben die Choneros, Los Lobos und die anderen Gangs bislang nicht wie befürchtet mit Autobomben und noch mehr Terror auf Noboas Militärkurs geantwortet. Das aber, so Kriminalitätsexperte Fernando Carrión, sei „kein Waffenstillstand, sondern nur eine Pause“. Am Mittwoch wurde der Staatsanwalt, der den Überfall auf den TV-Sender bearbeitete, in Guayaquil in seinem Auto hingerichtet. Der Terror geht weiter.

Karin Gabbert ist Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Quito.