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Viel Spaß mit viel Geschlecht

Kim de l‘Horizons „Blutbuch“ haben Ran Chai Bar-zvi und Michael Letmath für die Bühne eingedampft: In Hannover ist die Literatursensation von 2022 als Wohlfühlabend zu sehen

Von Jens Fischer

Da verschwimmen sie wieder, die Geschlechtergrenzen einer binär geprägten Denkweise. Das Publikum kuschelt sich clubatmosphärisch ins Ballhof-Foyer des Schauspiels Hannover. Stadtbummelanten drücken ihre Nasen an den Fenstern platt. In trutschig geschneidertem, aber blutrot gefärbtem Kostüm plus Silbergrauhaarperücke stöckelt Berlins Drag Queen Olympia Bukkakis in die Aufmerksamkeit des Publikums und verbindet die Catwalk-Eleganz der Gay Culture mit dem darübergestülpten Biedermuttidesign – zur Parodie von Weiblichkeit.

Schon wird eine scheppernde Playback-Tonspur hochgefahren und Bukkakis mimt den lloyd-webberschen Sehnsuchtsschlager „Memory“, bei einem gehauchten „touch me“ zittern ihr die Knie. So richtig in Glitzerfummel legt Fabian Dott nach mit Gitte Hænnings „Ich will alles“. Die Zuschauenden wogen mitklatschend im Takt und sind vollends verzückt, als auch noch Nils Rovira-Muñoz im Badeanzug auftritt und sich zu Vicky Leandros’ „Lauf und hol Wasser“ aus einer Gießkanne besprengen lässt. Alle sind nun angewärmt, die Herzen offen, die Sinne auf Neugier geschaltet fürs spielerische Auflösen heteronormativer Prägungen im performativen Spiel, denn nach dem Drag-Prolog gibt’s im Theatersaal einige Passagen aus Kim de l’Horizons autofiktionalem „Blutbuch“ zu erleben: Aus knapp 350 Seiten des mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichneten Romans haben Regisseur Ran Chai Bar-zvi und Dramaturg Michael Letmathe eine 25-seitige Theaterfassung destilliert.

Die fokussiert den zentralen Aspekt: Im fiktiven Dialog mit seiner an Demenz erkrankten Großmutter versucht die Erzähler-Person ihre Familiengeschichte mütterlicherseits erfinderisch zu erkunden und sich dabei zu entdecken – als uneindeutig suchend. Was vor allem bedeutet „gegen die body negativity anzuschreiben, die ich geerbt habe“, wie Kim de l’Horizon der Großmutter mitteilt, „vielleicht nicht von dir direkt, aber von der christlich-zentraleuropäischen Kultur.

Es geht nicht um Schuldzuweisungen, es geht darum, die Fäden aufzudröseln, die uns gewoben haben: die Fäden, die uns unter Männlichkeit Leidenden zusammenknoten, die je­de*n von uns in einem Kokon aus Schweigen, Scham und Scheinheiligkeit gefesselt haben, zu entwirren.“ Und dabei das System der Zweigeschlechtlichkeit ganz zu verlassen.

Wieder mal ein Luxusproblem, an dem sich das Theater abarbeitet und damit die Zuschauerreihen leerspielt, weil das Gender-Mainstream-Publikum wegbleibt? Ganz und gar nicht. Die Aufführungen in Hannover sind ausverkauft, weil es eben kein absolutes Minderheiten-Sujet ist. Vier Prozent der Bundesdeutschen bezeichnen sich laut der Studie „LGBT+ Pride 2023“ des Hamburger Umfrageinstituts Ipsos als transgender, non-binär, genderfluid oder anders als männlich oder weiblich. Drei Prozent fühlen sich zum selben Geschlecht hingezogen, weitere vier Prozent sind bisexuell. Je jünger desto stärker die Abgrenzung auf vielen Ebenen von alten Geschlechts- und Lebensmustern und desto dringlicher die Suche nach eigener Identität: Fast 25 Prozent der nach 1997 Geborenen fühlen sich der Rubrik LGBT+ zugehörig, so die Studie. Und wie geht das Theater das virulente Thema an?

So freud- wie verständnisvoll widmet sich das Darsteller:in­nen­trio den Kindheitserinnerungen des Autors, seiner Fremdheit im eigenen Körper und der unendlichen Lust, mit sieben Jahren „den silbrigen Ohrenring, den Mutter von ihrer Liebhaberin zum Abschied bekommen hatte“, zu tragen. Gefolgt von Kritik, über was alles geschwiegen wurde in der familiären Kommunikation. Selbstverliebt, aber mit Flair, wird ausführlich die Sehnsucht gefeiert, die Ausdrucks- und Erlebnismöglichkeiten des Körpers neu zu definieren. „So stürzte ich mich neonfarbenen Schuhes in die Schwulenkultur rein“, wird verkündet, „ernährte mich von Pornos und ließ mich so lange ficken, bis ich wundgescheuert war und auch die Bepanthen-Plus-Salbe nicht mehr half“.

Die Kims auf der Bühne schrei­ben an die Großmutter: „Ich habe nicht primär das Bedürfnis, Schwänze in mir zu spüren, ich habe das Bedürfnis, mich zu spüren, jenen pulsierenden Mantel um die Schwänze.“ Diesen Bekenntnis­eifer und Jargon mögen nicht alle, daher bringen ihn die drei Er­zäh­le­r:in­nen selten zornig, manchmal schnoddrig schroff, meist freundlich vermittelnd zu Gehör – überhaupt kommt die Inszenierung eher poetisch andeutend denn physisch ausagierend daher.

Requisiten des Lebens warten rechts und links der nur mit einer Projektionsplane ausgeschlagenen Bühne auf ihren Auftritt. Ausgiebig wird an Omas Schreibtisch monologisiert, auch mal die eine und andere Szene der Vorlage angespielt. So probiert das Ensemble mit sanftem Verlangen zu plätschernder Musik einmal Omas Kleider an und übersetzt die Entdeckungsfreude in ein Ganzkörperstrahlen.

„So stürzte ich mich neonfarbenen Schuhes in die Schwulenkultur rein, ernährte mich von Pornos und ließ mich so lange ficken, bis ich wundgescheuert war und auch die Bepanthen-Plus-Salbe nicht mehr half“

Theaterfassung von Kim de l‘Horizons Roman Blutbuch

Das Publikum reagiert mit Juchzen auf jede queere Geste. Bis die Idylle vorm Spiegel mit einem rabiaten „Jetzt zieh dich um“ beendet wird, „das sind Mädchenkleider, du bist doch kein Mädchen“. Später laufen kinobekannte Männer- und Frauenbilder über die Leinwand und die Schau­spie­le­r:in­nen kämpfen mit diesen Klischees.

Omas Blutbuche im Garten ist schließlich Anlass für eine ausführlich vorgetragene Kulturgeschichte des Baumes, wozu Alexandras „Mein Freund der Baum“ kauzig vertanzt wird. Gefolgt von einem Overhead-Projektor-Vortrag über den NS-Landschaftsgestalter Heinrich Wiepking, der nach dem Krieg unbehelligt an der TH Hannover lehrte. Nach so viel Aufklärungswut geht’s gleich weiter mit Analsex, Analsex und Analsex sowie den Ängsten eines genderfluiden Körpers im heutigen Alltag. Dramaturgisch lässig collagiert kommt der Szenenmix daher, kann künstlerisch allerdings nicht mit den extravaganten Wechseln im Sprachduktus und Textgenre der Vorlage mithalten.

Höchst sympathisch ist, wie sich alles zu einem lebensfrohen Wohlfühlabend der Selbstverständigung in den aktuellen Debatten um Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen fügt, die immer flexibler, vielfältiger und vor allem auch sichtbarer werden. Was inhaltlich noch so im „Blutbuch“ steckt, zeigen hoffentlich weitere Inszenierungen.

Schauspiel „Blutbuch“: Ballhof Zwei, Hannover, am 18. 1. sowie 17. und 23. 2., jeweils 19.30 Uhr

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