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Neues Album von Alli NeumannPhönix aus der Asche

Wer braucht schon die „Cool Kids“? Popsängerin Neumann legt ihr Album „Primetime“ vor – und befreit sich von einengenden Vorstellungen.

Hat alle Selbstbeschränkung abgelegt: Alli Neumann Foto: Stephie Braun

Dem zweiten Album wird nachgesagt, dass seine künstlerische Realisierung das Schwierigste überhaupt sei. Hat sich das Selbstverständnis seit dem Debüt verändert? Wie lässt es sich weiterentwickeln, ohne Fans zu enttäuschen? „Die Problematik hat sich leider als real herausgestellt und mich in eine Identitätskrise gestürzt“, erklärt Alli Neumann. „Letztendlich habe ich mich vom Hinterfragen freigemacht und die Musik innerhalb weniger Monate komponiert.“

Ihr neues Album trägt den Namen „Primetime“. Hauptsendezeit bedeutet in Neumanns Fall überwundener Herzschmerz, Liebesbekundungen und Party. Ihr Sound fußt auf breitbeinigen Gitarrenriffs, filigranem Funk, aber auch ruhigen, kraftvollen Stücken. Wie bei einem Blockbuster ist für alle was dabei. Alli Neumann ist vieles – coole Socke, schräger Vogel, Rampensau. Früher trug sie ihren blonden Bob mit giftgrünen Spitzen, heute erstrahlt die Frisur der 28-Jährigen in knalligem Orange.

Nachdem Alina-Bianca Neumann ihre ersten Lebensjahre in Polen verbracht hat, zieht die Familie nach Nordfriesland. Auf einem Flohmarkt entdeckt sie als Kind die Schallplatte „Schöner fremder Mann“ von Connie Francis und tingelt ab da von Altersheim zu Altersheim und singt den Se­nio­r*in­nen jene Schlager vor.

Das Album

Alli Neumann: „Primetime“ (P&C Jaga/Four Music/Sony)

Als Teenagerin fängt sie an, eigene Songs mit der Gitarre zu komponieren – damals noch auf Englisch – und bekommt im Alter von 14 tatsächlich einen Plattenvertrag. Neumann bricht die Schule ab und zieht nach Hamburg.

Einheizerin für Coldplay

Rückblickend bezeichnet sie die Musik, die sie damals gemacht hat, als schlecht und ist froh, die Schule doch mit einem Abschluss beendet und die Musikkarriere auf später verschoben zu haben. Dass sie für die Bühne geboren ist, konnte sie inzwischen als Einheizerin der britischen Softrock-Superstars Coldplay beweisen.

Auf ihrem Debütalbum „Madonna Whore Komplex“ (2021) arbeitete Neumann sich am Patriarchat und der Befreiung der dadurch verinnerlichten Normen ab. Nun, mit dem Nachfolger „Primetime“ traut sie sich etwas zu: mehr tanzbare Stücke; mehr konkrete Texte; mehr in der Freiheit angekommen.

Neben Funk, Bluesrock und Synthiepop bietet „Primetime“ aber auch melancholischen Klavier- und Gitarrenstücken Platz. Für ihren Zweitling hat Alli Neumann vor allem Liebeslieder geschrieben. Romantische, aber auch Oden an ihre beste Freundin und ihre Mutter. Und für sich selbst über den Moment, wenn man den Herzschmerz überwunden hat und wie Phönix aus der Asche emporsteigt und sich neu erfinden kann.

Neumanns Neuerfindung korreliert auch mit dem Thema Zugehörigkeitsgefühl und der Suche danach, was die Künstlerin in mehreren Songtexten von „Primetime“ verhandelt. „Ich habe früher lange meine polnische Identität versteckt und versucht, einfach deutsch zu sein. Deswegen war Dazugehören-Wollen immer ein Thema für mich. Aber ich habe auch gemerkt, dass ich einen hohen Preis dafür bezahlt habe, einen Teil von mir zu verleugnen.“

Zu sich selbst stehen

Der Song „Alien“ ist eine Hymne daran, zu sich selbst zu stehen. Und im Track „Cool Kids“ will sie genau zu denen nicht mehr gehören. „Ich habe mich lange in der alternativen Musikszene bewegt, wo es ein großes Feindbild gegen Kommerz gab. Aber ich habe gemerkt, dass ich mich mit dieser Einstellung ganz stark selbst limitiere – kreativ und musikalisch.“ Mitten in der künstlerischen Identitätskrise entschied sie sich, bei der TV-Show „Sing meinen Song – Das Tauschkonzert“ beim Privatsender VOX mitzumachen.

„Da haben schon manche gesagt: Das hätte ich nicht von dir erwartet. Da habe ich verstanden, dass ich so viele Dinge nur mache, weil ich darauf hinarbeite, Anerkennung von solchen ‚Cool Kids‘ zu bekommen. Und dass ich diese Beschränkung nicht mehr will. Die Erfahrungen bei ‚Sing meinen Song‘ haben meinen Horizont total erweitert.“

Ein Lied wie „Lebenswerk“, in dem Neumann ihrer Mutter für all die Opfer dankt, die sie für die Tochter gebracht hat, wäre ohne diese Erfahrung nicht entstanden. Über eigene Gefühle Songtexte schreiben statt kryptische Pirouetten. Eine Tanznummer machen, aus Spaß daran. „Es ist befreiend, zu erkennen, dass Musik immer etwas wert ist, wenn jemand sie gerne hört.“ Es geht also um Befreiung – diesmal von einengenden Vorstellungen, die man selbst von sich hat oder andere von einem haben.

Und darum, sich die Freiheit zu nehmen, sich selbst neu zu definieren. „Meine Musik ist aus Perspektive eines people pleasers erzählt, die versucht, sich weiterhin von dieser Wesensart zu lösen. Ich glaube, dass ich dazu auf ewig verdammt bin. Witzig ist, dass viele mich als frei, wild und unangepasst wahrnehmen. Aber es ist auf keinen Fall so, dass mich das keine Arbeit kostet.“

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