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Aufrüstung statt Straßenbau

In der Ukraine fordern Protestierende: Statt Straßen und Gebäude zu sanieren, soll der Staat lieber mehr in das Militär investieren

Aus Luzk Juri Konkewitsch

Es ist ein kalter Samstagmorgen im November, nur wenige Menschen sind im Zentrum der westukrainischen Stadt Luzk zu sehen. Doch neben den Arbeitern eines Versorgungsunternehmens, die den zentralen Platz der Stadt reinigen, sind auch mehrere Dutzend Demonstrierende gekommen. Sie versammeln sich unter dem Motto „Erst Drohnen, dann Stadien“. Eine Frau hält ein Schild mit diesem Slogan in der Hand. Auf dem Plakat einer anderen steht: „Pflastersteine oder Leben?“

Die Demonstrierenden lehnen es ab, dass die Städte und Gemeinden in der Ukraine Gelder für nachrangig zivile Projekte ausgeben, solange die ukrainische Armee nicht vollständig mit Drohnen ausgerüstet ist. „Wir gehen jetzt seit einem Monat zu diesen Kundgebungen. Für Pflastersteine, die Reparatur von Verwaltungsgebäuden und Stadien, das Streichen von Fassaden und die Einrichtung von Parkplätzen wird Geld ausgegeben – Dinge, auf die wir jetzt verzichten können“, sagt Swetlana Ipatjuk.

Auf ihrem Plakat steht: „Eine Hriwna (Währung der Ukraine; Anm. der Redaktion) für Pflastersteine heute ist morgen eine Todesanzeige.“ Ipatyuk erklärt: Ihr Mann sei an der Front, ständig erzähle er ihr und seinen Bekannten, wie wichtig es sei, die Bewegungen des Feindes aus der Luft zu überwachen. Drohnen retteten in diesem Krieg Leben, sagt sie – und die Ukraine brauche mehr davon.

Die Luzker Behörden planten derzeit die Straße, an der Ipaytuk lebt, für 50 Millionen Hriwna –umgerechnet rund 1,3 Millionen Euro – zu sanieren. „Ich brauche einen lebenden Ehemann zu Hause und keine Straßenreparaturen“, sagt sie.

Einige sind mit ihren Kindern auf den Platz gekommen. Ein Teenager hält ein Plakat hoch: „Während die Kinder spenden, verlegen die Behörden die Pflastersteine.“ Sein Vater sei im Krieg. Der Jugendliche erklärt, dass es genau umgekehrt laufen müsse: Die Straßen müssten mit Spenden saniert und mit Haushaltsmitteln Drohnen und Wärmebildkameras gekauft werden. Ein anderes Kind hält ein Schild mit dem Slogan in der Hand: „Pflastersteine werden die Eltern nicht ersetzen.“

Zuvor hatten die Proteste vor dem Stadtrat von Luzk stattgefunden, die Demonstrierenden waren auch vor das Büro der Regionalregierung gezogen. Zu den ersten Aktionen hatten sich zunächst nur bis zu zehn Menschen versammelt, mittlerweile sind es etwa 100.

Die Aktivisten Sergej Ryschkow und Anatoli Kotljuk erzählen den Protestierenden, was in der vergangenen Woche erreicht wurde: Beamte hätten einige Aktivisten der Gruppe eingeladen, den Haushaltsprozess zu kon­trollieren – damit die Armee so viel Geld wie möglich aus den kommunalen Haushalten erhalte. Und die Gemeinde Luzk habe angeordnet, nachrangige Ausgaben aus dem Haushalt künftig zu begrenzen.

Proteste dieser Art gibt es in allen größeren Städten der Ukraine, doch die Behörden gehen unterschiedlich damit um. Einige kommen den Demonstranten entgegen und versuchen, das Maximum an Geld für die Armee herauszuholen. Andere bezeichnen die Protestierenden als Populisten: Sie sagen, das Gesetz verbiete den lokalen Behörden, Geld an die Armee zu spenden. So etwa der Bürgermeister von Dnipro, Boris Filatow. Auf Facebook beschimpfte er Menschen, die an einer solchen Kundgebung teilnehmen: Wer der Armee wirklich helfen wolle, habe die Möglichkeit, dies anderweitig zu tun.

Im Oktober wurde auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski auf die Proteste in den Regionen aufmerksam. In einer seiner Ansprachen an die Ukrainerinnen und Ukrainer kritisierte er scharf diejenigen, die während des Krieges Geld aus dem Haushalt ausgäben, das nicht für prioritäre Bedürfnisse bestimmt sei.

Die zentralen Behörden in Kyjiw greifen die Empörung der Bürger auf und wollen nun die Steuern zwischen Staats- und Kommunalhaushalten umverteilen. Im November verabschiedete das Parlament ein Gesetz: Jetzt können Einnahmen aus der Einkommensteuer von Soldaten aus den kommunalen Haushalten in den Staatshaushalt abfließen. Das Gesetz sieht zudem vor, dass ein Teil dieses Geldes direkt an Militäreinheiten überwiesen und ein weiterer Teil für die Produktion von Drohnen, Munition und Waffen verwendet wird.

„Ich brauche einen lebenden Ehemann zu Hause, und keine Straßen­reparaturen“

Swetlana Ipatjuk

Und ein weiteres Thema treibt die Menschen in der Ukraine zu Protesten: Anfang November gab es in vielen ukrainischen Städten eine Welle an Kundgebungen für eine Demobilisierung von Soldaten. Proteste fanden unter anderem in den westukrainischen Städten Lwiw und Ternopil, in der südlich von Kyjiw gelegenen Metropole Schytomyr, dem östlichen Poltawa, sowie im südukrainischen Mykolajiw statt. Angehörige und Bekannte der Kämpfer appellierten an die Behörden, Wehrdienstzeiten für die Eingezogenen festzulegen. Sie fordern die Möglichkeit einer Demobilisierung nach 18 Monaten Dienstzeit.

„Wir fordern, dass unsere Jungs eine Pause bekommen – moralisch, körperlich und um sich auszukurieren. Unsere Ehemänner sind oft krank, stehen unter Schock und haben keinen Platz, um sich auszuruhen. Mein Mann ist seit den ersten Tagen dabei, er ist Mähdrescherfahrer. Er war nicht in der Armee, ging jedoch zur Verteidigung, weil er das musste. Er hatte so gehofft, dass andere ihn später ersetzen würden“, sagt Lydia Schost, Teilnehmerin einer Kundgebung in Poltawa. Und: „Herr Präsident, bitte tauschen Sie unsere Leute aus.“

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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