Neues Album von Loraine James: Softe Kritik an den Verhältnissen

Auf dem Album „Gentle Confrontation“ der Produzentin Loraine James geht es um Selbstfindung. Und Selbstliebe, mit überraschenden Wendungen.

Portrait

Hat mit 27 ein sehr reifes Album vorgelegt: Loraine James Foto: Ivor Alice

Das Jahr 2003 – was könnte einem dazu einfallen? Die US-Invasion in den Irak, die im März begann. Der Rekordsommer, in dem in Europa Thermometer 47,5 Grad erreichten. Vielleicht auch „Dangerously in Love“, das Debüt der US-amerikanischen R&B-Sängerin Beyoncé, das im Juni erschien. Für die britische Musikerin und Produzentin Loraine James war 2003 ein Jahr, das ihr Leben veränderte.

Den zweiten Song auf ihrem neuen Album „Gentle Confrontation“ hat sie danach benannt. Es war das Jahr, in dem ihr Vater starb. „When I was seven, my Dad went to Heaven, possibly / I looked at the Sky, uncertainty / It hurt me, Uncertainty“. James trägt den Text vor, begleitet nur von einem schlichten musikalischen Arrangement. Gefühlvoll, getragen erzählt sie ihre Geschichte, die Geschichte einer Verletzung – „It hurt me“ ist die Zeile, die sich einbrennt –, ohne aber ins Pathetische abzurutschen.

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„2003“ ist schon im Mai vorab erschienen, der Track gab die Richtung für das Album „Gentle Confrontation“ vor, konzeptuell vor allem, thematisch, den sanften Konfrontationskurs, wie es der Albumtitel suggeriert. James konfrontiert sich mit sich selbst, wagt sich an eine Familienaufstellung heran. In den 16 Songs des knapp unter einer Stunde langen Werks geht es um familiäre Beziehungen und emotionale Prägungen, Selbstfindung, Selbstliebe auch.

Loraine James ist 1995 in London geboren. 2015 begann sie elektronische Tracks auf Bandcamp zu veröffentlichen, ihr Debütalbum „Details“ brachte sie noch selbst heraus. „Gentle Confrontation“ ist ihr drittes Album bei Hyperdub, insgesamt ist es ihr fünftes Werk innerhalb von sechs Jahren.

Beziehungen und Gefühle

In James scheint einiges zu brodeln, das noch heraus möchte. Kindheitserinnerungen, Familiengeschichten sind das im aktuellen Album vor allem. Sie analysiert Beziehungen und was diese bedeuten, was es heißt, für andere da zu sein. Sie erzählt Alltagsschnipsel und von Zugehörigkeit, von Gefühlen für andere, aber auch solchen für sich selbst. Auf dem Cover sieht man die Musikerin, wie sie den Kopf in die eigenen Arme schmiegt und gedankenverloren aus der Kamera blickt.

In der Pressemitteilung ihres Labels ist zu lesen, dass James Musik machen wollte, die sie als Teenager gerne gemacht hätte, beeinflusst von damaligen Favoriten, von Postrock und Frickel-Electronik wie DNTEL, Lusine und Telefon Tel Aviv.

In einer Instagram-Story wiederum postete sie kürzlich ein Schwarz-Weiß-Bild, auf dem sie Schallplatten in die Kamera hält: Werke der R&B-Sängerinnen Brandy und Aaliyah, der Chicagoer Postrock-Band Tortoise und der US-Emo-Band American Football, und darüber der Satz „What influenced the Album“.

Experimentelle Intelligent Dance Music haben diese Einflüsse ergeben, in die sich Grime, Glitch, Garage, UK-Drill, und Ambient mischen, R&B auch, ein wenig Soul und Folk. Field Recordings sind zu hören und auch ASMR-Sounds, rockige Klänge eher als Sample oder hintergründige Klangfarbe.

Berührende Unmittelbarkeit

„Gentle Confrontation“, der titelgebende Auftaktsong, hat etwas von einer Ouvertüre in der Oper. Er beginnt mit anschwellender Orchestermusik, in die sich ein elektronischer Beat drängt, der langsam, aber sicher die Oberhand gewinnt, Drum-Samples kommen noch hinzu, die im Loop sanft vor sich hin hämmern. „Let you go“, der dritte Song, nach „2003“, wartet mit R&B-Referenzen und Autotune auf. Die New Yorker R&B-Sängerin und -Produzentin KeiyaA ist es, die man da hört.

KeiyaA ist die erste von einer ganzen Reihe an Kolleg*innen, deren Unterstützung sich James für „Gentle Confrontation“ geholt hat. Über ein „Déjà-vu“ rappt RiTchie von der HipHop-Crew Injury Reserve. „One Way Ticket to the Midwest (Emo)“ mäandert unterstützt von Corey Mastrangelo, Gitarrist der Math-Rock-Band Vasudeva, vor sich hin. Marina Herlo, George Riley, Eden Samara und Contour heißen die weiteren Partner*innen.

In dieser Musikerin scheint einiges zu brodeln: Erinnerungen an die Kindheit etwa

Berührend in ihrer Unmittelbarkeit, mit ihren an Tagebucheinträge erinnernden Songtexten fallen dann aber vor allem die Tracks aus, die James solistisch bestreitet. Auf „Cards with the Grandparents“ meint man sie wirklich zu vernehmen, die Spielkarten, wie sie aus der Hand gezogen und rhythmisch auf den Wohnzimmertisch gepfeffert werden.

Vor sich scheint man die Szene zu sehen, die James im Sprechgesang beschreibt, den dementen Großvater „still very cool“, die Currygerichte, der Fernseher, mit Soap-Operas in Dauerschleife „Still Seeing Sally Webster“. Vielsagend ganz ohne Text ist „I DM U“ mit wabernden Synths, die von einem Schlagzeug durchbrochen werden.

Von Selbstzweifeln erzählt „I’m Trying to Love Myself“. Nach und nach schält sich James Stimme darauf aus glitchigen Klanglandschaften heraus. Mantraartig murmelt James mehr vor sich hin, als dass sie klar artikuliert, was sie offenbar davon abhält, sich selbst zu lieben: „Wanna be you / wanna be you / wanna be you.“

Immer wieder überraschende Wendungen

Die Rückbesinnung, die Auseinandersetzung mit sich selbst geschieht auch auf musikalischer Ebene. „Glitch the System (Glitch Bitch 2)“ verweist auf „Glitch Bitch“, den ersten Song ihres Albums „For You and I“ aus dem Jahr 2019, ihrem ersten Hyperdub-Album. Melodischer, weicher, eingängiger fällt die neue Version aus.

„Gentle Confrontation“ ist ein heterogenes Album, Musik die immer wieder neue Wendungen nimmt, bei der man beim Durchhören vielleicht sogar zwischendurch nachschaut, ob immer noch dasselbe läuft. Irritieren könnte das. An den vielen verschiedenen Mu­si­ke­r*in­nen und Sänger*innen, die James mit an Bord holte, liegt das einerseits.

Loraine James: „Gentle Confrontation“ (Hyperdub/Cargo)

Andererseits ist es aber auch das Thema, das nach vielen verschiedenen Tönen, Stimmungen und Stimmen verlangt. Sehr reif, fast schon wie ein Alterswerk wirkt „Gentle Confrontation“ bisweilen, „I’m tired of holding, tired of holding / Getting older, I’m getting older“ heißt es denn auch im Finale „Saying Goodbye“. Loraine James ist aber erst 27. Da kann noch einiges kommen.

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