: In der Tradition von Samisdat
Das Exilmagazin „Rodina“ versammelt russische Texte, die in Russland nicht publiziert werden können
Von Katja Kollmann
Rodina heißt Heimat. Rodina heißt auch eine kleine feine Zeitschrift, die seit Kurzem in Berlin erscheint und an die große Tradition der sowjetischen Samisdat-Literatur anknüpfen will. Texte, die in Russland nicht publiziert werden können, sollen in Berlin veröffentlicht werden. Auf Russisch.
Beeindruckend ist, wie transparent Rodina Press den Entstehungsprozess macht. Auf Instagram und Telegram wird die kleine Rodina-Community (es gibt etwa 1.000 Follower) über den Open Call für Texte und Fotos rund um das Thema Heimat, die AutorInnen-Shortlist, und sogar Schrifttype sowie Farbe der ersten Ausgabe informiert. Herausgekommen ist eine 112 Seiten starke Nullnummer mit einem eleganten, luftig-leichten Layout. Es scheint, als würden die in Mittelblau gehaltenen Buchstaben auf dem mattweißen Papier tanzen. Stilistisch und inhaltlich bleiben die Texte der zwölf ausgewählten AutorInnen, eine erfrischend heterogene Gruppe, leider oft im Konventionellen stecken.
Zwei Texte aber ragen wie Leuchttürme heraus. So lässt Christian Gorski in seinem Text „Gefangener Null“ einen Chatbot, den man mit Wissen über den russischen Gefängnisalltag gefüttert hat, in der Figur des naiven Gefangenen Null auf die Gefangenen Eins, Zwei und Drei treffen. Dem Petersburger Mediendesigner reichen zwölf Seiten, um die im russischen Strafvollzug von Grund auf vorhandenen Gewaltstrukturen an konkreten Fallbeispielen darzustellen. Deutlich wird: Das russische Gefängnis ist per se eine rechtsfreie Zone, in der jeder Neuzugang der Gewalt von Mithäftlingen und Gefängnispersonal schutzlos ausgeliefert ist.
Bei Grigorij Komlev ist etwas aus den Fugen geraten. Die Buchstaben sind nicht mehr an ihrem gewohnten Platz. Als hätte es innerhalb der Worte kleine Erdbeben gegeben, die die Vokale und Konsonanten durcheinander gewirbelt haben. Das Auge muss Worte und somit Verse wie ein Puzzle zusammen setzen – und trifft immer wieder auf drei kleine Kreuze. Ein Antikriegs-Gedicht: „Jeder Stein ist ein Vorwurf … Der Stein und sie stehen dem Tod gegenüber. Irgendwo steht: Du sollst nicht töten. Es gibt nur das Neue, das brennt ohne je angezündet worden zu sein.“ Der Versuch, das Gedicht „Dsieklisja“ vorzulesen, scheitert an einem Abend im August, als im Hof des Buchladens Motto Berlin die neue Exilzeitschrift vorgestellt wird. Die Gedichtzeilen sind entweder unverständlich oder werden beim Vorlesen automatisch verfälscht.
Eigenartig berührend ist diese anachronistisch anmutende Vorstellung einer analogen, nicht kommerziellen Zeitschrift in einem Kreuzberger Hinterhof in Zeiten des allgegenwärtigen Internets. Initiator des Ganzen ist Stas (seinen Nachnamen nennt er nicht), ein schlaksiger Mann mit langen Haaren. Er hat sein ganzes Stipendiengeld in den Druck der ersten Hundert Rodina-Exemplare gesteckt. Inzwischen wurde Rodina auch in der georgischen Hauptstadt Tiflis, einem Zentrum der russischen Emigration, gelauncht. Auch in Paris, der traditionellen russischen Exilhauptstadt, ist die Zeitschrift erhältlich. Und die zweite Ausgabe ist in Vorbereitung. Der Open Call läuft noch bis zum 1. Oktober. Stas wird den Paragrafen 29 der russischen Verfassung wieder auf die erste Seite drucken lassen: „Jeder hat das Recht, frei nach Informationen zu suchen, sie zu erhalten und sie weiterzugeben. Pressefreiheit wird garantiert. Zensur ist verboten.“ Auf der nächsten Seite wird stehen: „Rodina. Die Samisdat-Zeitschrift der freien Literatur“. Und auf Seite 6 nur zwei Worte: „Net Voinje! – Nein zum Krieg!“
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