Demokratie wird altersschwach

Kommende Generationen brauchen eine lebenswerte Umwelt – doch können sie noch nicht für sich selbst sprechen. Wie kann man die Rechte künftiger Menschen stärken?

Von Leon Holly

Die Anzahl der Menschen, die über eine Zukunft entscheiden, die sie kaum noch betreffen wird, wächst. Denn alte Menschen stellen zwar einen überdurchschnittlich großen Teil der Bevölkerung dar, leben aber gar nicht mehr so lange. Ihre politischen Interessen sind oft andere als die von jungen Menschen. Die Entscheidungsmacht größerer Bevölkerungsgruppen ist in einer Demokratie naturgemäß größer als bei Minderheiten. Aber ist das für zukünftige Genera­tionen wirklich gerecht?

Waren 1970 noch gut 11 Prozent der Deutschen 67 Jahre oder älter, so sind es heute etwa 20 Prozent. Der demografische Wandel führt dazu, dass die Zahl der Alten im Verhältnis anschwillt. Bis 2070 dürfte die Kohorte laut Statistischem Bundesamt auf über ein Viertel anwachsen. Entsprechend stärker werden ihre politischen Interessen von den Parteien aufgegriffen und vertreten.

Wie sich das auf junge Menschen auswirkt, wird insbesondere am Klimawandel deutlich. Dessen langfristige Auswirkungen zu begrenzen ist für sie geradezu überlebenswichtig. Ältere Menschen können sich solidarisch ebenfalls für eine klimafreundliche Politik einsetzen, unmittelbar betreffen tut sie das Thema aber in vielen Teilen der Welt nicht.

Am stärksten wird der Klimawandel voraussichtlich diejenigen treffen, die noch gar nicht geboren sind. Die Anzahl der Menschen, die unter seinen Folgen leiden werden, könnte die derjenigen, die bisher gelebt haben, um ein Vielfaches übertreffen. Die Sorge um ebenjene künftige Generationen beschäftigt in der philosophischen Debatte vor allem die Vertreter des longtermism. Sie werden von der Überzeugung geleitet, dass die Leben der kommenden Generationen moralisch ebenso relevant sind wie die der heute lebenden Menschen.

Longtermism-Philosophinnen denken deshalb viel darüber nach, welche existenziellen Risiken das Überleben der Menschheit gefährden – Klimawandel, Atomkrieg oder Pandemien – und welche Ressourcen wir aufwenden sollten, um sie zu minimieren. Dabei stoßen sie auf die Schwierigkeit, verlässlich vorherzusagen, wie wahrscheinlich die einzelnen Bedrohungsszenarien überhaupt sind. Die Menschen der Zukunft, die diesen Bedrohungen ausgesetzt sein werden, werden ebenfalls moralische Ansprüche, Interessen und Bedürfnisse haben. Aber wie lassen sie sich heute schon in politische Entscheidungen einbeziehen?

Zumindest auf dem Papier werden künftige Menschen schon mitgedacht. 2015 verabschiedeten die Vereinten Nationen die 2030-Agenda für Nachhaltige Entwicklung. Darin heißt es etwa, eine nachhaltige Lebensweise sei notwendig, „damit die Erde die Bedürfnisse der heutigen und kommenden Generationen decken kann“.

Doch unser politisches System ist nicht darauf ausgelegt, künftige Personen zu reprä­sentieren. Unter vager Berufung auf einen „Generationenvertrag“ geben Politiker zwar vor, die Mitbürgerinnen von morgen mitzudenken. Wenn es aber darum geht, für Rechte und Interessen einzutreten, braucht es heute real existierende Menschen, die sich der Sache annehmen.

Das politische System ist nicht darauf ausgelegt,künftige Personen zu repräsentieren

Junge Menschen, die oft noch kein Wahlrecht haben, gehen deshalb nicht nur for future auf die Straße, sondern streiten dafür auch vor Gericht. 2020 klagte eine Gruppe junger Menschen vor dem Bundesverfassungsgericht, weil sie das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung aus dem Vorjahr für zu schwach hielten. Im Frühjahr 2021 gaben ihnen die Richter in Karlsruhe teilweise recht. Das Gesetz verletze die Freiheitsrechte der Klägerinnen, da es die Lasten der Emissionsminderungen unumkehrbar auf die Zeit nach 2030 verschiebe. Für diese Zeit danach ergebe sich daher das Risiko „schwerwiegender Freiheitseinbußen“ für die jungen Menschen von heute. Die Regierung musste nachbessern und zog etwa das Ziel der Klima­neutralität um fünf Jahre auf 2045 vor.

Die Karlsruher Richter sprechen in ihrer Begründung von einer Schutzpflicht des Staates „auch in Bezug auf künftige Generationen“. In den USA sind diese bereits im Gerichtssaal vertreten, wie in der Klage Juliana v. United States. 2015 warf eine Gruppe Jugendlicher der US-Regierung vor, das Recht der jungen Generation auf „Leben, Freiheit und Eigentum“ zu verletzen, indem sie die Verbrennung fossiler Brennstoffe fördere. Der Klimawissenschaftler und -aktivist James Hansen, dessen Enkelin eine der Beschwerdeführerinnen war, schloss sich der Klage an als sogenannter guardian for future generations („Beschützer der künftigen Generationen“).

Das amerikanische Rechtssystem zeigt sich dabei nicht nur offener für die Abbildung kommender Menschen im Gerichtssaal. Bemerkenswert – wenn nicht unumstritten – ist die Praxis, auf kommunaler Ebene der Natur gewisse Rechte zuzuschreiben. Seen oder Flüsse können vor Gericht klagen, gleichfalls repräsentiert durch eine Interessenvertreterin, die sich für ihre Unversehrtheit einsetzt.

Im Fall der Klimaklage Julia­na v. United States schien sich James Hansen als Vormund für die künftigen Generationen anzubieten. Er hatte den US-amerikanischen Kongress bereits 1988 in einer viel beachteten Rede vor dem Klimawandel gewarnt und konnte als Klimatologe mit der Autorität der Wissenschaft vor dem fossilen Status quo warnen.

Eine ähnliche Idee entwickelt der Autor Kim Stanley Robinson in seinem Roman „Das Ministerium für die Zukunft“. Ebenjenes Ministerium wird im Jahr 2025 von den Unterzeichnerstaaten des Pariser Klimaabkommens ins Leben gerufen, „um sich für die künftigen Generationen von Weltbürgern einzusetzen“. Die Beamten in Robinsons Roman lassen sich durch ihre wissenschaftliche Expertise leiten. Sie sind, mit anderen Worten, Technokratinnen, die ihre Herrschaft durch vermeintlich neutrales wissenschaftlich und technisches Wissen legitimiert sehen.

Die Klä­ge­r:in­nen im Fall Juliana v. United States kämpfen um ihre eigene Zukunft und die der kommenden Generationen Foto: Terray Sylvester/VW Pics/imago

Doch aus demokratischer Sicht ist eine solche technokratische Selbstermächtigung fragwürdig. In der extremen Konsequenz könnten die Herrschenden unter Berufung auf wissenschaftliche Prognosen einfach an den heutigen demokratischen Mehrheiten vorbeiregieren. Dabei stoßen sie auf ein ähnliches Problem wie die Vertreter des longtermism: Ebenso wie sich die Risiken der Zukunft nicht perfekt vorhersagen lassen, kann man auch die Ansprüche und Wünsche kommender Menschen nicht perfekt modellieren – und damit auch schwer umsetzen.

Wissenschaftliche Vertretungen für zukünftige Generationen gestalten sich unter diesen Bedingungen also als schwierig. Näher liegt stattdessen, dass die Jüngsten unserer Gesellschaft nicht nur am ehesten für ihre eigene Zukunft, sondern auch für die der Folgegenerationen eintreten können. Wie also ihrer Sorge Rechnung tragen? Womöglich, indem Gesellschaften ihnen nicht nur den Weg des Protestes oder der Klage lassen, sondern handfest ihre politischen Teilhabemöglichkeiten stärken.

Diskutiert wird zum Beispiel das Familienwahlrecht, bei dem Eltern für ihre Kinder wählen gehen könnten. Die Idee ist, dass die Eltern bei der Stimmabgabe das Wohl ihres Nachwuchses mitbedenken und entsprechend wählen. Allerdings würde das eben nicht die Teilhabe der Kinder selbst stärken, sondern nur die ihrer Vormünder – und die Anschauungen von Eltern und Kindern über die Zukunft gehen oft weit auseinander.

Mit Abstand am meisten Aufmerksamkeit bekommen Forderungen für eine Absenkung des Wahlalters. In manchen Staaten, wie Brasilien, gibt es das Stimmrecht ab 16 bereits. Einige Vordenkerinnen gehen aber so weit, die Altersgrenze noch früher ziehen zu wollen oder sie ganz abzuschaffen. Kinder könnten dann, sobald sie sich dazu in der Lage fühlen, bei der Stimmabgabe über ihre Zukunft entscheiden.