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Das „Wilde Möhre“-Festival behauptet sich seit zehn Jahren in der brandenburgischen Lausitz. Ein Einblick vom Rande der Tanzfläche

Der Kaffee wartet schon: die „Wilde Möhre“ in der Coronazeit Foto: Paul Weisflog

Von Nina Christof

Was sind das für Verrückte, die mitten in der brandenburgischen Lausitz an einem versteckten Stück Erde namens Göritz den kleinen Kosmos, der sich „Wilde Möhre“ nennt, jeden Sommer aufs Neue erfinden? Hat man es bis hierher geschafft, liegt das Treiben von Berlin, Cottbus oder Leipzig längst hinter und der mit Discokugeln geschmückte Wald direkt vor einem. Spätestens ab Mitte Mai kommen hier nach und nach bis zu 400 Helfende zusammen – freiwillig, festangestellt oder als PraktikantInnen – um nicht nur eins, sondern gleich vier Festivals vorzubereiten.

„Seelenkiste“ und „Maskenball“ nennen sich die Editionen der „Wilden Möhre“. Zusätzlich laden das „Lusatia“ und erstmalig auch das „Prærie Festival“ nach „Möhritz“ ein. Durch diesen Zusammenschluss war es trotz steigender Kosten möglich, die Ticketpreise zu halten. Jede Veranstaltung setzt ihren eigenen Schwerpunkt, doch vereint sie die Lust an elektronischer Musik und ausgefallener Kunst.

Mitwirken können alle, die sich mit Birkenstocks durch den Matsch trauen und kein Problem damit haben, über längere Zeit im Zelt zu wohnen. Was die Menschen dort verbindet, ist mehr die Lust am kreativen Entfalten in der Natur als ihr scheinbares Hippie-Dasein. Es müssen Schilder bemalt, Bühnen gezimmert und Lichtshows getestet werden. Aus jeder Ecke hört man Musik die Akkuschrauber anfeuern. Wo gerade noch matschige Radladerspuren den Boden durchzogen, sollen bald elektronische Bässe nächtelange Performances begleiten.

Während der Aufbauzeit geht es weniger um die Flucht vor der Routine als um deren Neuerfindung: Nach dem gemeinsamen Essen wird gemeinsam gebastelt und der Feierabend gemeinsam am Lagerfeuer zelebriert. Auch Arnfried setzt sich gerne dazu. Vor 27 Jahren kaufte er das Gelände, um hier eigene Festivals zu veranstalten, bis er 2014 sein Gut an die „Wilde Möhre“ verpachtete. Als „Lebenselixier“ beschreibt er den Flair, den dieser Ort auf ihn ausübt. Mitten im Gewusel steht sein eigenes Häuschen, daneben werden tagtäglich Tribünen und Piratenschiffe aus dem Nichts hochgezogen: „Wenn ich keine Lust mehr habe, nehme ich den Hund und fahre an den See.“

Trotz der Abgelegenheit zieht es die verschiedensten Gemüter und Alter in diese kleinstadtähnliche Gemeinschaft. „Ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit Sanftheit und Schönheit“ lebt man hier laut „Wilde Möhre“-Gründer Alexander Dettke den gesellschaftlichen Austausch. Soll heißen: alle sind willkommen, unabhängig von Hautfarbe, Gender, sexueller Orientierung, Religion oder Herkunft.

Am Wochenende wird es neben musikalischen Acts auch Workshops und Vorträge zu gesellschaftsrelevanten Themen wie Feminismus oder Achtsamkeit geben. Body Painting, Yoga und Breathwork sollen das Nötige gegen den morgendlichen Kater tun. Man hat den Anspruch, ein Ort zu sein, „an dem sich die Menschen nachhaltig verändern können“, erzählt Dettke.

Ein bisschen mehr als 3.000 Leute versammelten sich am letzten Juliwochenende, um die fleischlosen Essensstände und selbstgebauten Komposttoiletten einzuweihen. Überall funkeln aufwendig gestaltete Installationen, welche von teils internationalen KünstlerInnen entworfen wurden.

Nur eines stört die Optik etwas: Hinter den drei größten Bühnen thront eine monströse Wand aus bis zu sechs Überseecontainern. Sie sollen die Handvoll AnwohnerInnen, die im unmittelbaren Umkreis wohnen, vor dem Lärm schützen. Zusätzlich werden hochwertige Systeme zur Bassauslöschung eingesetzt. Allerdings ist das aus Sicht einiger der insgesamt acht betroffenen Menschen nicht ausreichend. Vor der Pandemie gab es nur ein einziges lautes Wochenende, nun lägen sie viermal im Jahr wach im Bett – von Freitag bis Montag, schildert eine Nachbarin. Zwar fließt ein Euro pro verkauftem Ticket direkt an die Anwohnenden, jedoch reicht der Unmut soweit, dass es einen schon lang währenden Rechtsstreit gibt. Die weiter gehenden Angebote der Ver­an­stal­te­r – der Einbau besserer Fenster oder die Erstattung einer Reise während der Festivaltage – wurden abgelehnt. Aus diesem Grund geht der Prozess im Oktober dieses Jahres in die nächste Runde.

Demnach gleicht ein kostenloses Ticket erst recht nicht die Forderung nach dem Verschwinden des Festivals aus. „Wir haben nichts davon“, äußert eine Frau den Wunsch, wenigstens mehr eingebunden zu werden. Früher kamen die Busse mit den Feierwütigen an der nahegelegenen Gaststätte „Drehpunkt Göritz“ an. Nach der ersten Stärkung führte der Weg zum Festival durch die überschaubare Siedlung. Da lohnte sich für die Anwohnenden noch der Aufbau kleiner Stände. „Seitdem geklagt wird, ist das nicht mehr möglich“, erzählt sie weiter.

„Wir sind ein wertvoller Teil der Lösung, weil wir junge Menschen hierher holen“

Alexander Dettke, Festivalgründer

Die Gemeinde Drebkau spricht sich prinzipiell für die „Wilde Möhre“ aus. Ohne sie ginge „kulturelle Vielfalt für den Landkreis Spree-Neiße verloren“, bemerkt der Bürgermeister Paul Köhne. Diese Gunst ist auch die Grundlage für die Fördermittel, die das Festival zugesagt bekommen hat. Einst geprägt vom Kohleabbau, sieht sich die Region mit einer weitreichenden Abwanderung der Bevölkerung konfrontiert. „Wir sind ein wertvoller Teil der Lösung, weil wir junge Menschen hierher holen“, sagt Dettke.

Um diese familiäre Festivalsubkultur zu erhalten, will man nächstes Jahr zusammen mit den „Prærie“-Gründern eine neue Veranstaltungsreihe etablieren: „Laut, Leise, Lausitz.“ Zusätzlich läuft ein Bebauungsplanverfahren, das das Gelände endlich legalisieren soll, auch wenn dies bedeutet, dass die in kürzester Zeit liebevoll errichteten Gebäude alle wieder abgerissen werden. Die Anwohnenden werden wohl weiterhin den Bässen vor ihrer Haustür standhalten müssen. Dettke hält fest: „Es wird für die Ewigkeit gebaut.“

Die Autorin nahm an der Aufbauwoche des Festivals teil.