piwik no script img

Blumen am Abgrund

Wie es den alten Menschen im Pflegeheim um die Ecke während Corona geht, wollten Kinder aus der Rütli-Schule wissen. Daraus ist das beeindruckende Stück „Passagiere“ des Theaterensembles Papillon geworden

Von Katja Kollmann

Heiderose Neumann sieht beeindruckend aus mit dem hohen Blumengesteck im weißen Haar. Kerzengerade sitzt sie auf ihrem Stuhl im Gemeinschaftsraum des Pflegewohnheims am Kreuzberg. Gerade sieht man sie zweimal, denn es läuft ein Schwarz-Weiß-Video mit ihr. „Ich habe Mundharmonika gespielt“, sagt sie in der Aufnahme, führt das Instrument zum Mund und zeigt, dass sie es immer noch kann. Mit Neumann sitzen noch weitere acht betagte Pflegeheim-Bewohner*innen auf leicht spacig aussehenden Sitzgelegenheiten. Denn Kostümbildnerin Silja Landsberg hat den Heimstühlen eine einfache und gleichzeitig effektive Frischzellenkur verordnet: kreative Ummantelung mit durchsichtigem Plastik.

Ursula Kropp sitzt im Rollstuhl. Sie hat einen turbanähnlichen goldglänzenden Kopfschmuck auf dem Kopf. Im Laufe des Abends wird ihr eine Schülerin der Rütli-Schule einen Strauß mit blauen Blumen überreichen. Nachdem sie mit ihr ein kleines Interview geführt hat, eins zu eins und mit ziemlich großen Mikrofonen. Die Grundschülerin fragt die alte Dame nach ihren Kindheitserlebnissen. Kropp erzählt von ihrer Mutter, die damals mit Diphtherie im Krankenhaus lag, und dem Wunsch der kleinen Tochter, ihr Blumen zu schenken. Dann beschreibt sie, als wäre es gestern gewesen, wie sie versucht hat, am Rand eines Abgrunds wunderschöne blaue Blumen zu pflücken, den Halt verlor und zwei Tage später im Krankenhaus wieder zu sich kam.

Langsam öffnen sich jetzt die Rollos einer Glasfront und geben den Blick frei auf eine kleine ansteigende Grünanlage. Das wilde Grün, das dort wachsen darf, ist wie durch Zauberhand mit großen blauen Blumen durchsetzt. Schülerinnen in weißen Kleidern, die an die Kindermode vor über hundert Jahren erinnern, bewegen sich leichtfüßig durch den kniehohen Pflanzenteppich und pflücken die blauen Fantasieblumen.

Siebzig Minuten dauert „Passagiere“, die neue Stückentwicklung des Theaterensembles Papillons im F2 Theater im Pflegewohnheim. Alle neun Akteure, von denen etwa die Hälfte dement ist, überzeugen durch eine beeindruckende Präsenz. Kostümbildnerin Landsberg stattet jeden mit einem nicht alltäglichen Attribut aus, das am Körper getragen wird und die erzählte Kindheitserinnerung kommentiert.

Udo Thiel, ein beeindruckender Charakterkopf mit weißer Haarmähne und Rauschebart, berichtet von der Flucht der neunköpfigen Familie aus dem Riesengebirge nach Bayern und einem ersten Zuhause in der „Judenschule“. Dann öffnet er die bunte Holzdose, die an einer Kette um seinen Hals baumelt, holt einen Schlüssel hervor und schenkt ihn seinem Interviewpartner, der heute nur ein wenig älter ist als er bei Kriegsende. „Zur Erinnerung an mich“, sagt Thiel in diesem Moment. Es ist ein inszenierter Abschied.

Udo Thiel ist der Älteste der Truppe und der einzige Heimbewohner, der vom Papillon-Ursprungsensemble aus dem Jahr 2016 übrig geblieben ist. Alle anderen sind inzwischen verstorben. Die Isolation während der Pandemie war für die Menschen im Pflegeheim sehr belastend, erinnert sich Papillon-Gründerin Christine Vogt. In dieser Zeit haben die Regisseurin Briefe aus der Rütli-Schule erreicht. Die Kinder wollten wissen, wie es den alten Menschen an der Fidicinstraße geht. Über Zoom kamen Kinder und Alte in Kontakt. Ein Podcast entstand und jetzt endlich eine gemeinsame Stückentwicklung.

In der Musik eine wichtige Rolle spielt. So singt Heiderose Neumann laut ein Pionierlied, Elvira Werthmüller versonnen „Am Brunnen vor dem Tore“, denn sie erinnert sich an einen jungen Mann im Nachbarhaus, der immer Akkordeon spielte, wenn sie damals den Hof fegte. Während sie das alte Lied textsicher ins Mikrofon intoniert, bekommt sie immer mehr Back­ground­sän­ge­r*in­nen im Ensemble. Boris Bergmann begleitet beide am Klavier. Er unterlegt die Inszenierung mit einem Klangteppich, der oft an Stummfilmmusik erinnert und den verlangsamten Bewegungen der alten Generation wie auch dem hüpfenden Gang der jungen einen leicht melancholischen Grundton verpasst. Am Schluss sitzen die Alten auf einem Mäuerchen hinter der geöffneten Fensterfront. Hinter ihnen türmt sich das Grün in den Himmel. Es ist, als wären sie schon in einer anderen Welt. Entspannt schauen sie herüber und winken. Die Jungen winken zurück, bis das Rollo die Alten langsam verschwinden lässt. Und die Erinnerungsstücke in einer Ecke zurückbleiben.

F2 Theater im Pflegewohnheim: Wieder 30. 6., 1. 7., 18 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen